Die letzten Monate des Ersten Weltkriegs
Inhalt:
1.1 Die militärische Lage nach dem Scheitern der deutschen Frühjahrsoffensiven
2. Die militärische und innenpolitische Lage im Spiegel der Titelseiten Bonner Tageszeitungen
2.1 Die Westfront im September
2.2 Friedensverhandlungen in Aussicht?
2.3 Der Kieler Matrosenaufstand und seine Folgen
3. Der Alltag in Bonn im Spiegel der Presse
3.1 Durchhalten lautet die Parole!
3.2 Dennoch: Die vielbeschworene Heimatfront wird brüchig.
3.3 Spenden für den Krieg und seine Opfer
3.5 Amüsement in Zeiten des Krieges
3.7 Der Bombenangriff vom 31. Oktober
3.8 Von drohenden Einquartierungen
1.1 Die militärische Lage nach dem Scheitern der deutschen Frühjahrsoffensiven
Im Verlauf des Sommers 1918 hatte sich die militärische Lage für die deutschen Truppen an der Westfront dramatisch verschlechtert. Die letzten Frühjahrsoffensiven waren nach anfänglichen Geländegewinnen von bis zu 70 Kilometern gescheitert: Auf deutscher Seite betrug die Zahl der Verluste 250.000 Soldaten, auf Seiten der Alliierten lag sie sogar noch höher. Monat für Monat landeten aber seit dem Frühjahr US-amerikanische Truppen in den französischen Kanalhäfen, bis Ende September rund 1,3 Millionen amerikanische Soldaten die Überlegenheit der Gegner des Deutschen Reiches unumkehrbar machten. Verschwunden war jetzt die Siegesgewissheit, die die militärische Führung nach dem von Deutschland erzwungenen Friedensschluss von Brest-Litowsk am 3. März 1918 beflügelt hatte, machte er doch die Verlegung der Truppen von Osten nach Westen und damit die Frühjahrsoffensiven überhaupt erst möglich.
Bereits in der zweiten Julihälfte hatten die alliierten Gegenoffensiven begonnen, die schließlich die deutschen Truppen an allen Frontabschnitten zum Rückzug zwangen. Deren Versorgungslage war aufgrund von Nachschubproblemen katastrophal, der Unmut der Soldaten nahm zu und führte zu militärischem Ungehorsam und Desertionen. Ab Oktober schwächte das Wiederaufflammen der Spanischen Grippe die Truppen. Hinzu kam, dass die mit dem Deutschen Reich verbündeten Staaten ab Ende September um Waffenstillstand ersuchten: Bulgarien schied am 24. September aus dem Krieg aus, Österreich-Ungarn am 27. Oktober und das Osmanische Reich am 31. Oktober. Deutschland stand nunmehr allein im Kampf gegen die übermächtigen Alliierten und die USA.
Ludendorff, Erster Generalquartiermeister, der eigentlich mächtige Mann in der Obersten Heeresleitung und verantwortlich für die militärische Planung, der noch im Sommer stets von einem militärischen Endsieg gesprochen hatte, machte eine unerwartete Kehrtwende: Am 29. September erklärte er im belgischen Spa, dem Hauptquartier der Obersten Heeresleitung seit Frühjahr 1918, den Krieg für verloren, ein Gesuch um Waffenstillstand für unumgänglich und „verordnete“ Deutschland die parlamentarische Demokratie. Der alte Reichskanzler, Graf Hertling, trat zurück und schlug als seinen Nachfolger den liberalen, aber zumindest adligen Prinz Max von Baden vor. Der ließ sich am 3. Oktober zum Reichkanzler ernennen und richtete das von Ludendorff als dringend notwendig erachtete Waffenstillstandsgesuch über diplomatische Kanäle an den amerikanischen Präsidenten Wilson. Der hatte sein 14-Punkte-Programm bereits am 8. Januar 1918 im Kongress vorgestellt. Zu jener Zeit hatten deutsche Politiker und Militärs dieses Angebot noch strikt abgelehnt; jetzt schien es die Möglichkeit für einen „ehrenvollen Frieden“ zu bieten mit besseren Bedingungen, als sie von Briten und Franzosen zu erwarten waren.
Ludendorffs Vorgehen war ein äußerst geschickter Schachzug, denn auf diese Weise konnte er die bevorstehende Niederlage und einen wie auch immer gearteten Friedensschluss einer zivilen Regierung anlasten: Die und nicht die OHL hatte das Waffenstillstandsgesuch einzureichen und die Verhandlungen zu einem Abschluss führen! Die war es, die für die Folgen die Verantwortung trug!
Der entschiedenen Bitte des neuen Reichskanzlers Max von Baden folgend, entließ der Kaiser am 26. Oktober den Ersten Generalquartiermeister Ludendorff. Der hatte zwischenzeitlich seine pessimistische Lagebeurteilung, der zufolge die Front jeden Augenblick zusammenbrechen könne, revidiert und drang darauf, Zugeständnisse beim Waffenstillstandsgesuch auf alle Fälle zu vermeiden und weiterzukämpfen. Er hielt zudem die amerikanische Forderung nach einem grundlegenden Wandel des politischen Systems für unannehmbar und war mit seiner kompromisslosen Haltung, die die Verhandlungen mit der amerikanischen Seite gefährdeten, für eine zivile Regierung nicht mehr tragbar. Zu seinem Nachfolger wurde Wilhelm Groener ernannt. Hindenburg blieb indes auf Bitten des Kaisers auf seinem Posten und trat erst kurz vor Unterzeichnung des Versailler Vertrags am 25. Juni 1919 als Chef der OHL zurück.
Am 29. Oktober hatte angesichts der drohenden Niederlage des Heeres die Admiralität der deutschen Hochseeflotte in Wilhelmshaven den Befehl zum Auslaufen gegeben, um einen letzten, wenngleich aussichtslosen Angriff auf Britanniens Royal Navy zu starten, statt die Schlachtflotte kampflos zu übergeben. Aber die Matrosen verweigerten den Befehl, die Heizer löschten die Feuer in den Maschinenräumen. Nach zwei Tagen gaben die Meuterer auf, 1000 Männer wurden verhaftet, aber die Widerstandsbewegung war nicht mehr zu stoppen. In Kiel vereinigten sich Matrosen mit Soldaten, um die Freilassung der Verhafteten zu erzwingen. Am 3. November übernahmen Arbeiter- und Soldatenräte die Macht, und in den folgenden Wochen breitete sich die revolutionäre Bewegung von Kiel aus auf ganz Deutschland aus. Allerorten forderten eiligst gebildete Arbeiter- und Soldatenräte die Beendigung des Krieges.
Wilson hatte in einer vierten Note vom 5. November u. a. verlautbaren lassen, dass der Alliierte Oberkommandierende, General Foch, von der Regierung der USA und Großbritannien ermächtigt worden sei, eine deutsche Waffenstillstandskommission in seinem Hauptquartier in Compiègne zu empfangen. Damit lag nahe, dass die Haltung des amerikanischen Präsidenten, ein Waffenstillstand müsse zwar dem Sicherheitsbedürfnis der Alliierten Rechnung tragen, dürfe aber nicht durch allzu harte Bedingungen den eigentlichen Friedensschluss belasten, sich nicht durchsetzen würde. Die deutsche Delegation unter Führung des Zentrumspolitikers Matthias Erzberger, die am 7. November im Sonderzug die legendäre Waldlichtung von Compiègne erreichte, hatte am Ende keine andere Wahl, als ohne Verhandlungen nach mehrfachen Rückversicherungen bei der Regierung in Berlin am 11. November das gleichsam oktroyierte Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen. Von dem erhofften „ehrenvollen Frieden“ war nichts übrig geblieben war; vielmehr bedeutete die Annahme des Vertrags eine bedingungslose Unterwerfung, wie Frankreich und Großbritannien sie schon seit vielen Wochen gefordert hatten.
Militärs waren in der deutschen Delegation nicht vertreten: So konnten sie die Verantwortung für die Unterzeichnung und alles daraus Folgende von sich weisen und zivilen Kräften übertragen. Am 11. November um 11 Uhr verkündete ein Trompetensignal, dass der Krieg beendet sei. Am Tag zuvor hatte Wilhelm II. die Grenze nach Holland überschritten, das bereit war, ihm Asyl zu gewähren. Erst am 28. November 1918 verzichtete er offiziell auf die deutsche Kaiserkrone und die Krone Preußens.
Die Abdankung des Kaisers hatte am 9. November bereits eigenmächtig Max von Baden verfügt, der zugleich von seinem Posten zurücktrat und den Sozialdemokraten Friedrich Ebert zu seinem Nachfolger ernannte – rein rechtlich eine Unmöglichkeit. Am selben Tag rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann die Republik aus – übrigens gegen den Willen Eberts, der die Monarchie bewahren wollte. Nur zwei Stunden kam er Karl Liebknecht zuvor, der vor dem Berliner Schloss die „Sozialistische Republik“ verkündete.
Dass Ludendorff bereits Ende September den Krieg für verloren erklärt hatte, blieb der Öffentlichkeit verborgen; nichts davon war in deutschen Zeitungen, so auch nicht in den Bonner Tageszeitungen, zu lesen. Schließlich galt nach wie vor eine strenge Zensur, die eine ehrliche Einschätzung der militärischen Lage unmöglich machte. Was erfahren die Leser und Leserinnen in jener Zeit aus der Bonner Zeitung, der Deutschen Reichs-Zeitung, dem General-Anzeiger? Welches Bild gewinnen der Leser und die Leserin heute im Abstand von 100 Jahren über die militärische Lage, die Parlamentarisierung des Reichs und den Alltag in der rheinischen Mittelstadt?
2. Die militärische und innenpolitische Lage im Spiegel der Titelseiten Bonner Tageszeitungen
2.1 Die Westfront im September
Die Lektüre aller Bonner Tageszeitungen erweckt über Wochen hinweg den Eindruck: Nach wie vor ist das deutsche Heer siegreich. Zwar beginnt der Rückzug der deutschen Truppen – das wird eingestanden –, aber es ist allenfalls ein taktisches Manöver. Die Bonner Zeitung erklärt am 4. September: „Was Hindenburg mit seiner Rückzugstaktik erreichen kann und will, haben wir mehrfach im Osten erlebt und auch im Westen schon erprobt Wenn der Feind über Hindenburgs Rückzug frohlockte, traf ihn um so sicherer der Rückschlag. Und das wird auch Foch noch erleben. Foch, der sich zu Tode siegt, der die letzten französischen Trümpfe ausspielt.“
Im ganzen Monat September wird, vertraut man den Tageszeitungen, der „Feind [...] restlos abgewiesen“ (BZ vom 5. September), wenngleich den Lesern nicht verborgen bleiben kann, dass die deutschen Truppen zurückweichen. Der General-Anzeiger zitiert am 6. September Ludendorff: „Wir alle können dankbar dafür sein, daß der Krieg in den Formen, die er angenommen hat, unserem Heimatgebiet im allgemeinen erspart geblieben ist.“ Und schreibt über „taktische Frontverlegungen [...] im Rahmen seiner strategischen Rückzugsoperationen“. Der Rückzug wird schon durch die Wortwahl vielfältig verbrämt; so läßt Ludendorf der Bonner Zeitung vom 7. September zufolge verlautbaren: „Auch zwischen der Oise und Aisne hat sich die Loslösung vom Gegner planmäßig vollzogen.“ Vom „militärischen Mitarbeiter“ des General-Anzeigers wird am 7. September gemeldet: „Der fortgesetzte, schrittweise sich vollziehende Rückmarsch der deutschen Heere hat also nichts beunruhigendes an sich: im Gegenteil, er hat die Absichten des Feindes durchkreuzt. Die deutschen Feldherren haben sich der Entscheidung entzogen, die der Gegner erzwingen wollte.“ Und weiter: „Aber der Vernichtungswille unserer Feinde wird auch weiterhin unbefriedigt bleiben, denn auch die stärksten amerikanischen Hilfen können den Geist des Sieges in unserem Heere nicht zerstören.“ (GA vom 8. September)
Im General-Anzeiger vom 12. September prognostiziert der Militärberichterstatter des Blattes eine von Foch geplante Entscheidungsschlacht, auf die die Heeresleitung bestens vorbereitet sei. Admiral Scheer, Chef des Admiralstabs, lasse wissen, „daß ich nicht einen Augenblick zweifle, England mit dem U-Bootkriege auf die Knie zu zwingen; nur lehne ich es ab, mich auf einen bestimmten Zeitpunkt festzulegen.“ Zurückweichen, aber Standhalten und entschlossen zur Verteidigung, das sind die Botschaften, die in diesen Wochen unter der Rubrik „Von den Kriegsschauplätzen“ aus dem Großen Hauptquartier verkündet werden.
Am 20. September berichtet der militärisch Mitarbeiter des General-Anzeigers über „Angriffe gegen die Siegfriedstellung“, auf die sich die Truppen inzwischen zurückgezogen haben: „Das ist der Beweis, daß sie [die Feinde, S.H.] noch vor Eintritt des Winters einen großen Schlag zu tun wünschen. [...] Wir dürfen nicht daran zweifeln, und müssen uns darum mit der eisernen Entschlossenheit durchdringen, durchzuhalten um jeden Preis, daß der Gegner alles daran setzt, einen völligen Umschwung der Kriegslage herbeizuführen und unsere Waffenkraft zu zerbrechen. [...] Darum hat Hindenburg soeben dem Heere zugerufen, daß unbeschadet aller Friedensangebote seine ausschließliche Aufgabe sei, zu kämpfen. Das Heer weiß es und wird kämpfen und wird siegen.“ Und weiter am 23. September: „Der Zusammenbruch ihres Angriffes [der Engländer und Franzosen, S.H.] war vollständig.“ Am 30. September meldet der General-Anzeiger in seinem 5 Uhr-Blatt, in dem stets die neuesten Nachrichten bekannt gegeben werden, aus dem Großen Hauptquartier die „große Entscheidungsschlacht an der gesamten Westfront“, in der der Feind „örtliche Erfolge durch schwerste Verluste“ erkaufte. Kein Wort davon, dass Ludendorff, der diese Meldung gezeichnet hatte, am 29. September den Krieg in kleinem Kreise für verloren erklärt hatte.
2.2 Friedensverhandlungen in Aussicht?
Im Laufe des September wird zunehmend über einen möglichen Frieden nach vier Kriegsjahren geschrieben. Dabei geht es unter Verkennung der tatsächlichen Lage immer um die Bedingungen, unter denen Deutschland zu einem „ehrenvollen“ Friedensschluss bereit sei. Stets wird betont, dass Verhandlungen ausgeschlossen seien, „wenn die Gegner den Eintritt in Friedensverhandlungen von Bedingungen abhängig machen würden, die für Deutschland entwürdigend und unerträglich seien. In einem solchen Falle würde die Friedensneigung des deutschen Volkes hinter dem Willen zurücktreten müssen, seine Verteidigung auf Aeußerste fortzusetzen. [...] Wir sind bereit, vom Frieden zu reden als ein unbesiegtes Volk!“, zitiert der General-Anzeiger vom 9. September die sozialdemokratische Rheinische Zeitung.
Am 13. September kommt der linksliberale Vizekanzler Friedrich von Payer mit einer Stuttgarter Rede im General-Anzeiger zu Worte und gesteht ein: „Mit der Wirkung des U-Bootkrieges haben wir uns verrechnet.“ Von Payer plädiert für einen „Verständigungsfrieden“ und vertritt die Meinung, der Gedanke eines Verständigungsfriedens ohne Annexionen und Entschädigung gewinne täglich an Boden. Die Kolonien müssten allerdings an das deutsche Reich zurückgegeben werden.
Die Bonner Zeitungen reagieren recht unterschiedlich auf von Payers Ansprache. So lobt die Bonner Zeitung am 14. September „die wünschenswerte Klarheit“ der Rede „eines weit links stehenden Parteimannes“ (BZ vom 15. September) und fügt hinzu, „daß wir auch noch mehrere Ausführungen darüber in der B. Z. zu Wort kommen lassen werden, zustimmende und ablehnende“. Der ultrakonservative Herausgeber der Deutschen Reichs-Zeitung, Carl Hauptmann, der sich mit langen Kommentaren täglich auf der Titelseite seines Blattes zu Worte meldet, zeigt sich ablehnend: „Es erscheint allerdings ungereimt, jetzt vom Frieden zu sprechen, da der deutsche Rückzug die Franzosen in die wildeste Kriegspsychose versetzt hat.“
Mit seiner Einstellung weiß er sich einig mit dem Kaiser, der in Essen vor den Kruppschen Werkleuten am 10. September eine flammende Durchhalterede hält: „Die Ansprache zeigte sich von dem unerschütterlichen Willen beherrscht, unseren Feinden, die unsere Friedenshand wiederholt schnöde zurückgewiesen haben, bis zum Aeußersten die Stirn zu bieten. Sie unterscheidet sich in ihrer echt deutschen Kernhaftigkeit von allem zwecklosen Friedensgewinsel, das man in der jüngsten Zeit an manchen Stellen zu hören bekam.“ (GA vom 12. September)
Aber die Tage des Kaisers sind gezählt; zumindest zeichnet sich eine Machtverschiebung ab: Am 24. September titelt der General-Anzeiger: „Die Sozialdemokratie wird regierungsfähig.“ Gleichzeitig werden den Sozialdemokraten „Umsturzabsichten“ nachgesagt; sie wollten „eine Neubildung des Kabinetts Hertling“ erreichen, ein Bestreben, dem sich die Zentrumsfraktion des Reichstags entschieden widersetzen werde. „Von der Kampffront nichts Neues.“ Noch am 27. September erklärt der Berichterstatter der Zeitung aus Berlin: „Graf Hertling [...] erweckte auch am Donnerstag nicht den Eindruck, als ob er in der Wilhelmstraße seine Koffer packte“. Aber schon am 30. September nimmt der Kaiser der Berliner Zeitung zufolge das Rücktrittsgesuch des Grafen von Hertling an. (GA vom 30.September) Die Deutsche Reichs-Zeitung vom 1. Oktober fürchtet, dass mit diesem Schritt die Parlamentarisierung Hand in Hand gehe, die für das konservative Blatt alles andere als begrüßenswert ist: „Hierin liegt der Umsturz unserer Verfassung. Der Monarch [...] ist nur noch Statist, während das Parlament durch die von ihm gewählten Minister unbeschränkt über die Geschicke des Landes bestimmt, ebenso wie in den ‚freien’ Ländern des Verbandes, wo die Völker für die tollsten Utopien zur Schlachtbank geführt werden, für die ‚Selbstbestimmung der kleinen Völker’ und die ‚Abschaffung des Militarismus’ in Deutschland.“ Am 4. Oktober melden die Bonner Zeitungen schließlich die Ernennung Max’ von Baden zum neuen Reichskanzler.
Innenpolitisch nimmt dessen Kanzlerschaft im gesamten Monat Oktober prominenten Raum auf den Titelseiten ein; ebenso ist das Waffenstillstandsgesuch an Wilson sowie die Antworten des Präsidenten – der Notenwechsel erstreckt sich über mehrere Wochen – täglich Thema auf den Titelseiten. Noch am 22. Oktober heißt es in der Bonner Zeitung, „daß der Präsident der Vereinigten Staaten keine Forderung gutheißen wird, die mit der Ehre des deutschen Volkes und mit der Anbahnung eines Friedens der Gerechtigkeit unvereinbar sein würde“. Carl Hauptmann, Herausgeber der Deutschen Reichs-Zeitung, ist am 23. Oktober sehr viel skeptischer. Im Jahr 1917 hätte Wilson noch die Rolle eines „Schiedsrichters“ einnehmen können, nun aber sei er zum Mitkämpfer geworden: „Er hat um des Krieges willen ganz Amerika auf den Kopf gestellt, er hat fast 2 Millionen Soldaten nach Europa gelandet, er hat amerikanisches Blut geopfert, er hat seine Truppen unter den Oberbefehl eines französischen Generals gestellt. An einem Mann in solcher Lage muß man nicht in der Meinung gelangen, er könne Schiedsrichter sein.“ Tatsächlich hatte Wilson in seiner letzten Note die Weitergabe des deutschen Gesuchs an die Alliierten angekündigt und die Beteiligung der Ententeregierungen an möglichen Verhandlungen angekündigt.
Die Einbeziehung von Briten und Franzosen provoziert nicht nur auf den Titelseiten der Lokalzeitungen Widerstand gegen jedes weitere Entgegenkommen. Die Einsicht in die bevorstehende militärische Niederlage wird verdrängt: Am 8. Oktober verkündet der General-Anzeiger: „Das deutsche Schwert noch scharf!“ und erinnert damit gewollt oder ungewollt an den Aufruf des Kaisers zu Beginn des Kriegs im August 1914: „Es muß nun das Schwert entscheiden.“. Die deutschen Truppen seien erfolgreich „in Abwehr und Gegenstoß“; die Amerikaner hätten erneut „schwere Verluste“ erlitten, und das Friedensangebot bedeute „keineswegs das Eingeständnis unserer Niederlage“. Nur einen Tag später meldet die Bonner Zeitung: „Der gestrige Tag brachte uns an der Westfront nur Gutes. Der Feind erreichte bei seinen starken Angriffen so gut wie nichts.“ Wenige Tage danach steht im General-Anzeiger zu lesen: „Aus dem heutigen Kommentar unseres militärischen Mitarbeiters über die letzten Vorgänge an der Westfront können wir die Mitteilung entnehmen [...], daß aus dem Gang der militärischen Dinge wir die Ueberzeugung und Kraft schöpfen können, daß das deutsche Reich nicht bezwungen werden kann, demütige Bedingungen auf sich zu nehmen.“ Und wenn ein Rückzug, z. B. hinter die Aisne, gemeldet wird, so ist auch das nur von Vorteil: „Dadurch wird der Gegner immer wieder vor neue Aufgaben gestellt. Er muß seine schwere Artillerie nachziehen, muß seine Verpflegung neu ordnen und verliert kostbare Zeit, die wir gewinnen.“ (GA vom 12. Oktober) Die „Feinde werden abgewiesen“, und „der Feind [ist] unseren rückwärtigen Bewegung auch gestern nur langsam gefolgt“. (DRZ vom 14. Oktober)
Aber klar ist auch: Jetzt geht es nicht mehr um Geländegewinn, sondern darum, den Durchbruch der Alliierten an der befestigten „Siegfriedlinie“ – von den Alliierten als „Hindenburglinie“ bezeichnet – zu verhindern und die Front zu halten: „Aber niemals ist die Front für den Ausgang des Krieges von größerer Bedeutung, niemals ihre Aufgabe der Verteidigung des Vaterlandes von größerer Tragweite für die Zukunft des Vaterlandes gewesen. Auf diese Weise allein wird es in absehbarer Zeit zur Einstellung der Feindseligkeiten kommen können.“ (BZ vom 13. Oktober) Noch am 22. Oktober konstatiert die Deutsche Reichszeitung: „Unser Millionenheer, welches jetzt in Belgien und Frankreich steht, schützt uns nach wie vor“, versichert ihren Lesern und Leserinnen, dass die „Annexion der flandrischen Küste“ eine absolute Notwendigkeit für Deutschland sei und fügt hämisch hinzu, „daß die Engländer dies nicht einsehen wollen, konnte nur in der hohen Zahl der Analphabeten liegen, die England bekanntlich aufweist“.
Tage zuvor wird indes eine „sehr ernste Lage“ (DRZ vom 9. Oktober) eingestanden. Auch der General-Anzeiger konzediert am 10. Oktober, dass „die Lage unzweifelhaft [...] sehr ernst“ sei. Die Bonner Zeitung beschreibt am selben Tag „die schlechte Stimmung im deutschen Volke“ und sieht gar den Erfolg der neunten Kriegsanleihe, für die bis zum 6. November weiterhin eifrig gezeichnet werden soll, gefährdet: „Wir können und dürfen uns bei der Erfüllung unserer Pflicht gegen das Vaterland nicht von Stimmungen leiten lassen“ – sprich: und keine Kriegsanleihe zeichnen. Der General-Anzeiger beklagt am 26. Oktober „zahlreiche Fälle von Fahnenflucht und Menschenschmuggel“. Meldungen dieser Art sind verbunden mit scharfen Verurteilungen dieser „Vaterlandsverräter“ und Warnungen vor „Miesmachern“, denen die gegenwärtige militärische Situation „scheinbar Nahrung“ gebe. (DRZ vom 9. Oktober) Immer wieder wird von Fällen dieser Art berichtet, die vor das Kriegsgericht gekommen sind und mit hohen Freiheitsstrafen geahndet werden. Und dennoch: Carl Hauptmann prognostiziert noch am 29. Oktober in seiner Deutschen Reichs-Zeitung „Frankreichs Zusammenbruch“.
Nachdem Österreich-Ungarn am 27. Oktober den Alliierten einen Waffenstillstand angeboten und das Osmanische Reich am 31. Oktober den Waffenstillstand unterzeichnet hat, äußert sich der Kommentator der Bonner Zeitung am 1. November sehr viel skeptischer: „Die Lage des Deutschen Reiches wird durch diese neuesten Hiobsnachrichten nicht verbessert, sondern wesentlich verschlechtert, und auch diejenigen, die wissen daß trotz alledem der Krieg noch monatelang weitergeführt werden kann, dürften nicht allzu rosig in die Zukunft schauen.“ Andererseits „An der Westfront ist die Lage unverändert.“
Die Geländekarte auf der Titelseite des General-Anzeigers vom 24. Oktober macht den Rückzug auch visuell deutlich; nichtsdestoweniger verkündet am gleichen Tag die Bonner Zeitung: „Die Siegesmeldungen der Führer unserer Feinde lassen, trotz aller Aufbauschungen ihrer Erfolge, doch die Hauptsache vermissen, nämlich die Durchbrechung und Aufrollung der deutschen Front.“ Nur einen Tag später gibt die dritte Antwort Wilsons allerdings Anlass zur Befürchtung, dass die Alliierten „nicht Friedensverhandlungen, sondern Uebergabe verlangen“ (BZ vom 25. Oktober), dass sie die „Forderung eines Waffenstillstandes, der einer Waffenstreckung gleichkommt“, bedeute (GA vom 25. Oktober) und das, obwohl die deutschen Heere „erfolgreich drein schlagen“ und es „keine Spur von Kapitulationsneigung“ gäbe. Als beunruhigend wird empfunden, dass Wilson „die näheren Bedingungen eines derartigen Waffenstillstandes dem Generalissimo Foch überlassen“ wolle. Am 5. November zitiert der General-Anzeiger die Frankfurter Zeitung, der zufolge Wilson sich nicht zu den Waffenstillstandsbedingungen äußern wolle, bevor er die Ergebnisse der Senatswahlen kenne, deren Ausgang er auch als Abstimmung über seine Politik ansehe.
Wilson hatte seine Friedensinitiative mit der Forderung verbunden, der deutsche Kaiser möge abdanken; die eingeleitete Parlamentarisierung empfand er nicht als ausreichend für einen grundlegenden Wandel. Der General-Anzeiger widmet der „Kaiserfrage“ auf ihrer Titelseite vom 2. November einen langen Artikel, der mit den Worten beginnt: „Wie um Deutschland, so beginnt es auch um unsern Kaiser recht einsam zu werden.“ Der Kommentator warnt vor einem drohenden Thronverzicht: „“Das deutsche Kaisertum ist mehr als ein hohler staatsrechtlicher Begriff, und es bedeutet einen Sprung ins Dunkle, wenn wir jetzt dem Drängen der Unzufriedenen nachgäben und durch die Abdankung des Kaisers eine politische Katastrophe heraufbeschwören würden, die vielleicht im Bolschewismus ihr Ende finden könnte.“ Ein Hauch von Revolution liegt in der Luft.
Nur knapp 10 Tage später hat der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger keine andere Wahl, als im Wald von Compiègne einen Waffenstillstand zu unterzeichnen, der in den Augen der Deutschen eine komplette Unterwerfung unter das Diktat der Alliierten bedeutete. Am 11. November 1918 um 11 Uhr schweigen die Waffen an der Westfront. Die Bonner Zeitung zitiert unter der Überschrift „Einstellung der Feindseligkeiten“ am 12. November Marschall Foch: „Die Feindseligkeiten werden auf der ganzen Front am 11. November, 11 Uhr vormittags, französischerseits eingestellt werden. [...]“ und kommentiert: „Es hat wenig Zweck, uns zu verheimlichen, daß wir ein neues Jena [Bei Jena und Auerstedt verlor Preußen 1806 eine entscheidende Doppelschlacht gegen napoleonische Truppen; S.H.] erlitten haben bzw. noch mitten drin stecken. Wenn auch die Waffenstillstandsbedingungen schon derart sind, daß ihnen kaum noch Schlimmeres nachfolgen kann. [...]“ Den genauen Wortlaut der Bedingungen kann die Bonner Leserschaft den Titelblättern ihrer Lokalzeitung entnehmen.
2.3 Der Kieler Matrosenaufstand und seine Folgen
Die Ereignisse in Kiel werden in ihrer Bedeutung zunächst heruntergespielt. Am 5. November zitiert der General-Anzeiger die Kieler Zeitung, die über „bedauerliche Vorgänge, die sich am Samstag in Kiel ereigneten“, Bericht erstattete. Es habe eine Versammlung gegeben, „an der zahlreiche Marinemannschaften und Arbeiter beteiligt waren. Es sei zu Plünderungen und zu Versuchen, Gefangene aus der Militärarrestantenanstalt zu befreien, gekommen. Schüsse seien gefallen, es habe Tote und Verletzte gegeben. Arbeiter- und Soldatenräte seien gebildet worden. Am folgenden Tag werden laut dem Hamburger Fremdenblatt Offiziere getötet und verwundet, die rote Fahne gehisst, schließen sich Infanteriekompagnien den Aufständischen an. Aber:„Es herrscht sonst Ruhe und Ordnung.“ Und wiederum einen Tag später heißt es: „Die Bewegung unter den Matrosen und Arbeitern ist in ruhigere Bahnen zurückgekehrt.“ Hingegen werden „Unruhen in Hamburg“ gemeldet.
Am 9. November steht auf der Titelseite des General-Anzeigers jedoch zu lesen: „Die Aufstandsbewegungen haben sich weiter ausgedehnt. Es sind unter anderem in Mitleidenschaft gezogen: Hannover, Köln, München, Braunschweig, Magdeburg. Hiermit ist jedoch noch nicht gesagt, daß diese Städte ganz in der Hand der Aufständischen sind.“ Natürlich geht die „ganze Bewegung“ von der russischen Regierung aus, die hofft, „daß auch in Deutschland und demnächst in ganz Europa die bolschewistische Idee nochmals zum Aufflammen komme“.
Einen Tag später meldet die Bonner Zeitung die „Thronentsagung des Kaisers“. Angekündigt wird, dass Prinz Max von Baden den Abgeordneten Ebert zum Reichskanzler zu ernennen gedenkt und die Ausschreibung allgemeiner Wahlen für eine verfassungsgebende deutsche Nationalversammlung anregen will. „Die Aufstandsbewegungen haben sich weiter ausgedehnt“, wird das „Wolffbureau“, die offizielle deutsche Nachrichtenagentur, zitiert.
3. Der Alltag in Bonn im Spiegel der Presse
3.1 Durchhalten lautet die Parole!
Von der „großen Politik“ ist in den lokalen Nachrichten wenig zu spüren: Vom Rückzug der deutschen Truppen erfahren die Leser hier wenig. Stattdessen auch in Bonn Durchhalteparolen allenthalben: Oberbürgermeister Spiritus redet in einer „Ansprache an die Bürgerschaft“ von einer äußerst schweren Zeit: „Ungemein ernst ist die Zeit. Nur engster Zusammenschluß aller, Unterdrückung unnötigen Kleinmutes und unangebrachter Verzagtheit, Vertrauen zu unserem tapferen Heer und feste Entschlossenheit zum Durchhalten können uns über diese Zeit hinwegbringen.“ (DRZ vom 13. Oktober)
Am 23. Oktober schreibt die Bonner Zeitung über eine „zahlreich besuchte Versammlung“ der Ortsgruppe der annexionistischen Deutschen Vaterlandspartei und über deren einstimmig angenommene Erklärung, in der es abschließend heißt: „Wir vertrauen, daß die Regierung [...] keinen Augenblick zögern wird, das deutsche Volk zum letzten Kampf aufzurufen. [...] Wir geloben, was wir sind und haben bis zum letzten einzusetzen, daß wir diesen letzten Kampf um Deutschlands Leben und Ehre mit Gottes Hilfe gewinnen.“
Ähnlich zum Durchhalten entschlossen zeigen sich die „Professoren, Dozenten der Universität sowie die Vertreter der Bonner Studentenschaft“ mit ihrer Bekundung, die die Bonner Zeitung in der selben Ausgabe abdruckt. Und auch der „Verband der Freunde der evangelischen Freiheit“ fordert: „Aber Du, deutsches Heimatvolk, zeige Deinen Mut und Deine Entschlossenheit zum Aeußersten, Deutschland ist nicht verloren, solange Du Dich nicht verloren gibst.“ (BZ vom 23.10)
Kampf bis zum Letzten – das lehnt die SPD ab: Am 28. Oktober berichtet die Bonner Zeitung über eine Versammlung der Partei im Bürgerverein. Der Zulauf ist so groß, dass zwei Säle – einer davon bereits erweitert – nicht ausreichen, um alle Besucher zu fassen: im durchaus konservativen Bonn! Hunderte müssen abgewiesen werden. Redner ist der Reichstagsabgeordnete Meerfeld. Auch Meerfeld befürchtet, „ein Gewaltfriede würde die deutschen Arbeiter zu Sklaven ausländischer Kapitalisten machen“, kommt aber zu dem Schluss, dass sich alle in der Übermacht der Gegner getäuscht hätten – „auch unsere Heerführer“. Meerfeld spricht sich für ein sofortiges Kriegsende aus; man dürfe nicht um der sogenannten Ehre willen weitere Hunderttausende opfern und den Krieg über den Winter hinaus fortsetzen. Fehler bei der Kriegsführung, z. B. beim Beginn des U-Boot-Kriegs, der „Amerika in den Krieg getrieben hat“, anzumahnen, das geht der Bonner Zeitung denn doch zu weit: Man enthielte sich aber jeglichen Kommentars „um des neuen Burgfriedens willen“.
3.2 Dennoch: Die vielbeschworene Heimatfront wird brüchig.
Die Risse in der als geschlossen heraufbeschworenen Durchhaltegesellschaft werden im Sommer 1918 in der Lokalpresse spürbar, nachdem zuvor stets der Eindruck erweckt worden war, alle Bonner und Bonnerinnen stünden trotz harter Entbehrungen fest zu Kaiser und Reich sowie zum Kampf gegen die äußeren und inneren Feinde. Die alles beherrschende Zensur, erst nach Ausrufung der Republik aufgehoben, mag kritische Stimmen unterdrückt haben: Berichtete die Presse gelegentlich über einen „Drückeberger“, einen „Miesmacher“, der aus der Reihe tanzte, dann waren stets die „Patrioten“ zur Stelle, die ihn öffentlich zurechtwiesen. Das jetzt einsetzende Auseinanderdriften der Gesellschaft zeigt sich vor allem in den Leserbriefen – in der Deutschen Reichs-Zeitung in der Rubrik „Eingesandt“, im General-Anzeiger in den „Stimmen aus dem Leserkreis“. Einige Beispiele mögen genügen:
Es wird Front gemacht gegen die Kriegsgewinnler. Im General-Anzeiger vom 18. August mokiert sich Joh. Sch. über einen solchen Neureichen, der auf dem Rheindampfer im Luxus schwelgt: „Der Herr bestellt Pfirsich Melba für die dicke Gattin die für nichts anderes mehr aufnahmefähig ist, für sich nochmals Käse und noch eine Pulle, Zigarre mit Bauchbinde [...]. Er kann nicht, während er um vieles Geld ein üppiges Mahl schlemmt, die seelischen Qualen der armen Frau begreifen, die unten in der Vorkajüte auf einem Säckchen Kartoffeln sitzt und mit ihrem Enkeltöchterchen ein Körbchen festhält, in dem sich ein paar Eier, ein Bierfläschchen Milch und ein paar Falläpfel befinden, die sie für die schwindsüchtige Mutter der Kleinen in harter Tagesarbeit glücklich gehamstert haben.“ Des Weiteren beklagt er das Klima in der Schule seiner Kinder: „Wer da in Holzsohlen kommt, wird als minderwertig angesehen und verulkt.“ Seine Kinder würden sich weigern, das Pausenbrot mit Rübenkraut bestrichen mitzunehmen, denn dann würden sie von ihren Mitschülern ausgelacht, „die meist Butter, Käse, Wurst oder Schinken auf dem Brot hätten“.
Es gibt immer wieder Klagen über die „horrenden Verdienste“ der Munitionsarbeiter. Am 7. Juli veröffentlicht der General-Anzeiger die Zuschrift eines „Arbeiterfreundes“, der die Munitionsarbeiter verteidigt und stattdessen die jungen Industriearbeiter der Verschwendungssucht bezichtigt: „Aber daß in den Theatern, Singspielbühnen, Kinos und Spezialitätenbühnen viele jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen jetzt auf den teuersten Plätzen anzutreffen sind, daß diese in den ersten Hotels in Königswinter, Godesberg usw. hohe Zechen zahlen, häufig in Konditoreien verkehren und auch in Bonner Restaurants und Kaffees mit dem Geld nicht kargen, ist für den, der seine leiblichen Augen hat, unbestreitbar. [...] Es wäre eine dankenswerte Aufgabe für unsere Arbeiterführer, auf die Verschwendungslustigen ihren Einfluß geltend zu machen, daß diese sich für die Zeit nach dem Kriege etwas zurücklegen.“
Nur einen Tag zuvor hatte H. Schmitz im „Namen vieler Arbeiter der chemischen Industrie ebenfalls im General-Anzeiger die Munitionsarbeiter flammend verteidigt: „Habt ihr Schreier Euch mal die Arbeiter der erwähnten Industrie angesehen? Wie sie herum laufen gelb an Haut und Haaren, gelb an der Kleidung und blau im Gesicht infolge Säurevergiftung? Ist das der vielgepriesene Munitionsarbeiter mit dem sehr, sehr hohen Lohn?“
Im General-Anzeiger vom 1. Oktober beschwert der Leser T. sich im „Sprechsaal“ über die Erhöhung der Kartoffel- und Kriegsküchenpreise, die das Lebensmittelamt bekannt gegeben hat. Seine Klage richtet sich vor allem gegen die „hochgelohnten Arbeiter [...], denen es ‚auf einige Groschen mehr’ nicht ankommt“. Kleine Pensionäre und Angestellte hätten keine Stimme im Lebensmittelausschuß: „Diese haben nur zu zahlen und den Mund zu halten.“
Der „Urlauber E. Bl.“ rügt die angeblichen Vorteile des Beamtenstatus: „Unsere Frauen opfern dem Vaterlande ihre Männer und Söhne, wogegen ein beträchtlicher Teil der Beamtenschaft noch kein Feldgrau am Leib gehabt hat.“ Empört reagiert „Einer von der Heimatarmee“ am 7. Juli im General-Anzeiger. „Die Beamten und Angestellten in den staatlichen und kommunalen Verwaltungen und in unseren privaten und kaufmännischen Betrieben haben für die Aufrechterhaltung unseres deutschen Wirtschaftslebens ganz Außerordentliches geleistet, vielfach unter persönlichen Opfern, über deren Umfang Herr Bl. keine Vorstellung hat.!
3.3 Spenden für den Krieg und seine Opfer
Trotz aller Not: Gesammelt wird ohn’ Unterlass: Im September dauern die Sammlungen für die Ludendorff-Spende an, deren Erlös den Kriegsbeschädigten zugute kommen soll. Deren Zahl nimmt „bei den schweren Kämpfen, die unsere tapferen Truppen jetzt wieder an der Westfront zu bestehen haben, ständig zu.“ (DRZ vom 6. September) Immer wieder wird die Spendenbereitschaft der Bonner Bürgerschaft gelobt.
Am 1. Oktober wird in der Bonner Zeitung jedoch die Klage laut, die Kolonialkriegerspende „für die schwer geschädigten in den Kolonien, für die, die für Deutschlands Ehre einen aussichtslosen Kampf bis zum bitteren Ende kämpften,“ habe bei weitem zu wenig eingebracht. Eine Straßensammlung solle die Wende bringen. Darüber hinaus sollten die Lichtspiele „einen kolonialen Trickfilm“ zeigen, und der Erlös sonntäglicher Militärkonzerte sollte den Kämpfern zugute kommen, um nur einige der geplanten Aktionen zu nennen.
Seit September wird für die 9. Kriegsanleihe geworben. Übergroß heißt es noch am 3. November auf der Titelseite des General-Anzeigers: „Das deutsche Volk hat sein Schicksal in der Hand! [...] Jetzt ist die Zeit der vaterländischen Tat! Die 9. Kriegsanleihe muß eine Volksanleihe im wahrsten Sinne des Volkes werden. Sonntag, der 3. November, sei der Volkszeichnungstag. Alle Zeichnungsstellen werden nach der Kirchzeit geöffnet sein. Wer sein Vaterland und sich selbst erhalten will, der zeichne so viel er irgend kann. Wer schon gezeichnet hat, der zeichne mehr.“ Die Ergebnisse dieser letzten Kriegsanleihe bleiben jedoch hinter denen der 8. zurück. Der Verwaltungsbericht der Stadt Bonn beziffert die Zeichnungsergebnisse mit 40 Millionen Mark im Vergleich zu 51 Millionen Mark für die 8. Kriegsanleihe. (Verwaltungsbericht, S. 286)
Und wie gestaltet sich der Alltag den Zeitungsberichten zufolge? Im September 1918 hat sich die Versorgungslage in Bonn im Vergleich zum Steckrübenwinter 1916/17 etwas verbessert. Aber die Bewirtschaftung in allen Lebensbereichen hält an, und vor allem die Versorgung mit Fett ist ein großes Problem: Lediglich 50 Gramm Butter oder Margarine pro Woche „auf den Kopf“ werden in Spätsommer und Herbst ausgegeben.
Ende August 1918 werden die sogenannten „fleischlosen Wochen“ eingeführt, die bis zum 27. Oktober andauern sollen: „je eine fleischlose Woche nach jeweils zwei Fleischwochen“. Die sind „dadurch notwendig geworden, daß wir bisher mit unserem Fleischverbrauch etwas über das mit Rücksicht auf unseren Viehbestand zulässige Maß hinausgegangen sind“. (BZ vom 22. Juli 1918) Diese Einschränkung stößt auf wenig Verständnis: „Hier in Bonn wird die fleischlose Zeit dadurch besonders unangenehm empfunden, daß unsere Bevölkerung in anderen Wochen mit Rücksicht darauf, daß die Einwohnerzahl keine 100.000 erreicht, nur 150 Gramm zustehen.“ (BZ vom 11. September 1918) Und nicht einmal diese Menge wird erreicht, denn in der Regel gibt es gerade mal 135 Gramm! Klagen helfen indes nicht: Am 14. Oktober meldet die Bonner Zeitung, dass die „fleischlosen Wochen“ bis zum 12. Januar 1919 verlängert werden sollen.
Es gibt wieder mehr Kartoffeln, und die ungeliebte Steckrübe hat ausgedient. Im September beträgt die „Kopfmenge“ zwischen sechs und neun Pfund. Im Grunde wäre mehr vorhanden, aber es müssen „große Bestände den Kartoffeltrocknern zugeführt werden, um Kartoffelmehl für die Brotstreckung zu bekommen, und auch den Spiritusbrennereien, um den recht erheblichen Heeresbedarf an Spiritus zu decken“. (BZ vom 11. September 1918) Durchschnittlich 3½ Pfund Brot beträgt die Wochenration in diesem Monat, im Oktober wird sie auf 4 Pfund erhöht. 10% des Teigs bestehen aus Kartoffelmehl. Ein Problem stellt der Transport der Kartoffeln dar: Es fehlt an geschlossenen Eisenbahnzügen, sodass sie in offenen Waggons angeliefert werden müssen, deshalb dem Regen ausgesetzt sind und durch Nässe geschädigt werden können.
Der Mangel auf allen Gebieten des täglichen Lebens nimmt immer weiter zu: Kleidung und Schuhwerk sind kaum noch vorhanden. Brennnesseln sollen zu Stoffen verarbeitet werden; deshalb wird zu Brennnesselsammlungen aufgerufen. Bucheckernsammlungen sollen den Ölmangel kompensieren. Sonnenvorhänge, Segeltuch, Türdrücker und Türklinken, Web-, Wirk- und Strickgarne werden beschlagnahmt, marode Treibriemen führen zu Betriebsunfällen, Futtermittel fehlen – nur einige von vielen Beispielen. Bemerkenswert die Meldung im General-Anzeiger vom 3. November, der zufolge nun auch „Cocain und Cocain-Blätter“ beschlagnahmt werden sollen. Gegen die Beschlagnahme und geplante Einschmelzung der Figuren des Martinsbrunnens erhebt sich einstimmiger Protest der Stadtverordneten-Versammlung. (GA vom 17. September)
Noch hat die kalte Jahreszeit nicht begonnen, aber schon jetzt zeichnet sich ein eklatanter Kohlemangel ab. Und Kohle wird nicht nur zum Heizen, sondern auch zum Kochen verwendet. Bereits am 10. September ist in der Deutschen Reichs-Zeitung zu lesen: „Für die kommende Heizperiode 1918/19 muß damit gerechnet werden, daß die für den Hausbrand zur Verfügung stehenden Kohlenmengen nur dann gerade genügen werden, wenn sie mit alleräußerster Sparsamkeit verwendet werden.“ Auch Kohle ist nur „auf Karte“ erhältlich. Die Abnehmer werden verpflichtet sich „bis zu 14. September bei einem Brennstoffhändler in die Kundenliste eintragen zu lassen“. (BZ vom 1.September) Eine „Gaseinschränkung“, die bereits 1916 vom „Reichskommissar für die Kohlenverteilung“ angeordnet worden war, bleibt bestehen, nachdem es vorübergehend sogar eine „nächtliche Gassperre“ infolge Kohlenmangels gegeben hatte. (BZ vom 5. September)
Der Kohlenmangel führt zu Überlegungen, das Viktoriabad zu schließen, ein Plan, der auf heftigen Widerstand stößt und eine ganze Reihe von Meldungen und Leserbriefen zur Folge hat, denn für viele bietet diese Einrichtung die einige Möglichkeit für ein Wannenbad. Sogar die Betuchteren sind davon betroffen, denn oft fehlen auch in den Privathäusern inzwischen die Badegelegenheiten, da Reparaturen aufgrund von Materialmangel kaum noch durchgeführt werden können. (GA vom 27. September) Der General-Anzeiger empört sich über die mögliche Einstellung des Badebetriebes, wo doch andere Einrichtungen keine Probleme bei der Kohleversorgung haben: „Wenn man berücksichtigt, daß in Bonn trotz der Schwierigkeiten in der Kohlenbeschaffung seit anderthalb Jahren ein neues Operettentheater in Betrieb ist, das Stadttheater weiterspielt, daß sämtliche Bonner Kinos trotz der Kohlennot ihren Betrieb aufrecht erhalten können, daß Groß-Bonn immer noch gut beheizt ist, daß eine wahre Sündflut von Konzerten in diesem Winter über uns ergeht, die auch nicht ohne Saalheizung stattfinden können, so sollte man meinen, daß an der Stelle, wo der Kohlenbezug für diese Unternehmungen erfolgt, auch für das Viktoriabad die notwendigen Kohlen zu beschaffen wären.“
3.5 Amüsement in Zeiten des Krieges
In der Tat: Nach wie vor wird ein reichliches und vielfältiges Kultur- und Unterhaltungsprogramm angeboten. Es gibt eine Fülle von Konzerten im Stadt-Theater, im Bürger-Verein, in der „Lese“, oft zu wohltätigen Zwecken, aber auch Militärkonzerte sowie Kaffeehaus- und Tanzmusik: u. a. täglich im Gangolf-Haus und im Hotel Rheineck, dreimal wöchentlich im Rheinhotel Dreesen.
Das Kinoprogramm in den drei Lichtspielhäusern „Lichtspiele im Stern“, „Metropol“ und in den „UT- Lichtspielen“, bietet vor allem Lustspiele, Detektiv- und Liebesfilme – leichte Unterhaltung eben. Das Varieté-Theater Groß Bonn erfreut die Bonnerinnen und Bonner mit Bauchrednern, Jongleuren, Zauberkünstlern, Soubretten, Humoristen und vielem mehr. Anfang Oktober tritt dort der „Kraftmensch Siegmund Breitbarth auf. Ihm merkt man gar nichts von der allgemeinen Lebensmittelknappheit an“. (GA vom 8. Oktober) Einen ähnlichen Galgenhumor beweist der Kommentator des General-Anzeigers, der bei der Ankündigung des Zauberers Bellachini im großen Saal des Bürgervereins hinzufügt: „Vielleicht kann er seinen Besuchern auch Butter und Speck vorzaubern.“ (GA vom 11. September) Oder der Kommentar zum Märchenspiel „Tischlein deck dich“ im Operetten-Theater: „Auch das Thema war zeitgemäß.“ (GA vom 22. Oktober)
Das Operetten-Theater zeigt im September mit großem Erfolg „Die lustige Witwe“. Anscheinend denken die begeisterten Zuschauer nicht daran, dass in jener Zeit vielen Kriegerwitwen ganz anders zumute ist. Den Rezensenten der Bonner Zeitung vom 13. September stört eher etwas anderes: „[...] daß man gegenüber so vielen schönen, wirklich gehaltvollen Operetten, die wir Deutsche besitzen, gerade die ganz im französischen Fahrwasser segelnde „Lustige Witwe“ bei uns immer wieder zur Aufführung bringt, stellt unserem heutigen Zeitgeschmack kein gutes Zeugnis aus“.
Im Stadt-Theater werden Klassiker wie beispielsweise „Der zerbrochene Krug“, „Torquato Tasso“, „Maria Stuart“, „Wie es Euch gefällt“, „Der Misanthrop“ und „Die Jüdin von Toledo“, aber auch heute unbekannte Stücke wie „Die Nachtseite“ von Herbert Eulenberg aufgeführt, auch Opern wie „Die lustigen Weiber von Windsor“. Heeresangehörige haben auch zu all diesen Veranstaltungen oft freien Zutritt. Für sie gibt es außerdem regelmäßige sonntägliche Unterhaltungsnachmittage z. B. im Soldatenheim in der Josefstraße.
Dass all diese Veranstaltungsorte ihr „volles Programm“ anbieten können, erstaunt in der Tat, wo Kohlen knapp sind und selbst „Beleuchtungskörper“ jeder Art bewirtschaftet werden, d. h. nur mit „Beleuchtungskarten“ und sehr eingeschränkt zu beziehen sind.
Im Oktober kehrt die Spanische Grippe zurück. Ihre Gefährlichkeit wird zunächst heruntergespielt. Am 22. Oktober berichtet die Deutsche Reichs-Zeitung über die „Grippe in Köln“, die zur Schließung der Schulen geführt hat, und kommentiert beschwichtigend: „Es handelt sich bei dem Schluß nur um eine vorbeugende Maßnahme, die zu größerer Beunruhigung keine Veranlassung bietet.“ Der General-Anzeiger zitiert am selben Tag einen Leser, der „Alkohol, Schwitzen, bis der kranke Körper fieberfrei ist“ empfiehlt. „In der heutigen Zeit oft mangelhafter Ernährung muß sich der von der Grippe genesende Mensch infolge der geringeren Widerstandsfähigkeit seines Körpers sorgfältig gegen neue Erkältungen schützen“, heißt es ergänzend. Die Ausbreitung der Krankheit in Verbindung mit Mangelernährung zu bringen, wird von anderer Seite bestritten. In der Bonner Zeitung heißt es am folgenden Tag: „Die Grippe ist lediglich eine Infektionskrankheit, und ob ihre Verbreitung durch die jetzigen Ernährungsverhältnisse begünstigt wird, ist schon aus dem Grunde stark zu bezweifeln, weil in anderen Ländern, die vom Krieg nicht berührt werden, die Grippe ebenfalls stark auftritt.“
Immer wieder gibt es Empfehlungen, wie der Grippe am besten zu begegnen ist. Die Bonner Zeitung nennt am 23.Oktober das häufig verwendete Vorbeugungsmittel Calcium Chlorid oder „das Beimengen von Kalk zum Mehl“, fügt aber warnend hinzu: „Es sei darauf hingewiesen, daß derartige Kuren nicht verallgemeinert werden dürfen.“ Ein sehr originelles „Allheilmittel“ hat Joseph Häusler aus Feldkirch parat. Der General-Anzeiger zitiert „den Experten in Naturheilkunde“ am 25. Oktober: „Man gibt dem Patienten einen großen Suppenteller voller Salat von roten Rüben im Laufe von sechs bis acht Stunden zu essen. Ich habe viele Kranke gesehen, die abends 40 Grad Fieber hatten und nach Genuß der Rüben in der Frühe vollständig fieberfrei waren.“
Die Schulen sind auch in Bonn Stadt und Bonn Land geschlossen. Im Stadtgebiet sind derzeit „im Schnitt 30 von 100 Kindern erkrankt“. (BZ vom 25. Oktober) Vom Landkreis Bonn heißt es in der Deutschen Reichs-Zeitung vom 27. Oktober: „50 – 60 % der Schulkinder fehlen an einzelnen Schulen.“ Die Wiedereröffnung der Schulen wird für den 4. November in Aussicht gestellt. Tatsächlich wird der Unterricht ausgerechnet am 11. November wieder aufgenommen. (Verwaltungsbericht der Stadt Bonn 1914-1918, S. 19)
Der Straßenbahnverkehr in Bonn wird eingeschränkt (BZ vom 26.10), kurz darauf auch der Personenzugverkehr, weil „45.000 Bedienstete im Betriebe der preußisch-hessischen Staatsbahnen infolge der Grippe dienstunfähig“ sind. (GA vom 28. Oktober)
„Von weiteren öffentlichen Maßnahmen, Schließung der Theater, Versammlungsverboten u.a. wird vor der Hand abgesehen.“ (BZ vom 25.Oktober) Es wird jedoch dazu geraten, „Massenverkehr“ zu meiden, im Falle von akuter Erkrankung das Bett zu hüten und „erforderlichenfalls ärztliche Hilfe zuzuziehen“. Ermahnungen dieser Art stoßen anscheinend auf taube Ohren, denn: „Der gestrige geschäftsfreie Sonntag brachte regen Verkehr in unserer Stadt. [...] Den Hauptprofit an diesem Massenbesuch hatten die Vergnügungslokale, die sämtlich ausverkaufte Häuser zu verzeichnen hatten.“ (GA vom 28.Oktober)
Laut Verwaltungsbericht betrug die Zahl der Erkrankungen zwischen dem 14. Oktober und dem 21. November „nach den vorhandenen Aufzeichnungen (Meldepflicht besteht nicht)“ insgesamt 5160 Fälle, 288 Erkrankungen verliefen tödlich. (Verwaltungsbericht S. 19)
3.7 Der Bombenangriff vom 31. Oktober
Wie beratungsresistent die Bonner und Bonnerinnen sind, zeigt sich auch angesichts der Bedrohung durch feindliche „Fliegerangriffe“, die in anderen Städten wie im benachbarten Köln schon eine beträchtliche Zahl von Todesopfern gefordert haben. Die Bonner Bevölkerung scheint jedoch die Gefahr nicht ernst zu nehmen – immer wieder gibt es in den Tageszeitungen Aufrufe, die Verhaltensregeln bei „Fliegeralarm“ zu beachten. Erste Maßnahmen hatte die Stadt bereits im Herbst 1915 ergriffen und ein Sirenensystem installiert. Plakate veranschaulichen auch grafisch das richtige Verhalten bei Luftangriffen, und wiederholt werden die Luftschutzmaßnahmen in den Bonner Tageszeitungen veröffentlicht, die dennoch von vielen unbeachtet bleiben. Im Oktober 1917 wird Verdunkelung angeordnet, die Universität stellt ihre Abendveranstaltungen ein. Ab November 1917 werden die Alarmvorrichtungen verbessert, ab Juli 1918 gibt es erneut ein verbessertes Alarmsystem und strikte Regeln, die wieder auf Plakaten und in den Tageszeitungen publik gemacht wurden. .
Die „Fliegeralarme“ in der Stadt bleiben oft unbeachtet, die Bonner und Bonnerinnen bewegen sich weiterhin sorglos auf den Straßen, statt wie empfohlen in Häusern Schutz zu suchen, bis die Stadt am 31. Oktober 1918 zum ersten – und einzigen – Mal Ziel eines Luftangriffes wird. Eine Bombe schlägt direkt in eine auf dem Friedensplatz versammelte Menschenmenge ein: 16 Personen werden getötet, viele andere zum Teil schwer verletzt. Acht weitere Bomben fordern Opfer, allerdings nicht in so großer Zahl. Oberbürgermeister Spiritus nimmt den Bombenangriff zum Anlass für eine Rede zu Beginn der Stadtverordneten-Sitzung, die er mit den Worten einleitet: „Meine sehr verehrten Herren! Vor zwei Stunden ist die Stadt Bonn durch einen feindlichen Fliegerangriff von einer schweren Katastrophe betroffen worden. Mit Entrüstung über den Angriff auf eine unbefestigte friedliche Stadt paart sich die tiefe Trauer um unsere Mitbürger und Mitbürgerinnen, die diesem feindlichen Angriff zum Opfer gefallen sind.“ Die Zahl der Opfer verschweigt die Bonner Zeitung vom 1. November „aus den bekannten Gründen“. Erst am 3. November werden genaue Zahlen veröffentlicht. Im Verwaltungsbericht wird die Zahl der Getöteten mit 30 Personen angegeben, eine große Zahl sei mehr oder weniger schwer verletzt worden. „Der in 307 Fällen entstandene Sachschaden betrug rund 900.000 Mark.“ (Verwaltungsbericht S. 9)
3.8 Von drohenden Einquartierungen
Offensichtlich gibt es Bonner und Bonnerinnen, die angesichts der heranrückenden Front aus der Stadt flüchten. Die Deutsche Reichs-Zeitung warnt deshalb die „Ueberängstlichen“ am 1. November: „Die zuständigen Stellen sind von maßgebender Seite angewiesen worden, ihr besonderes Augenmerk auf die Wohnungen zu richten, die von Ueberängstlichen schon verlassen worden sind oder noch verlassen werden. Diese Wohnungen sollen auf Grund des Notstandsgesetzes an erster Stelle an Wohnungsbedürftige mit Beschlag belegt werden.“
Verlassener Wohnraum soll auch für Einquartierungen genutzt werden. Meldungen dieser Art scheinen für Unruhe im sonst so ruhigen Bonn zu sorgen. Die ist Anlass für einen Aufruf „An die Bewohner der Rheinprovinz“, der am 5. November im General-Anzeiger zu lesen ist: „Der Generalquartiermeister weist in seinem Schreiben an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz darauf hin, daß die augenblickliche Kriegslage keinen Grund zur Beunruhigung für die Bevölkerung de Rheinprovinz bietet. Die von militärischer Seite eingeleiteten Erkundungen bezwecken lediglich die Möglichkeit der Unterbringung militärischer Einrichtungen für den Fall zu prüfen, daß es zu einem Waffenstillstand und zur Räumung der besetzten Gebiete im Westen kommen sollte, wodurch naturgemäß wenigstens eine vorübergehende Belegung der westlichen Grenzgebiete bedingt werden würde.
„Ein Arbeiter- und Soldatenrat in Bonn. Heute Vormittag fanden in den Frühstunden Verhandlungen auf dem Rathause zwischen Vertretern der Soldaten und der Stadtverwaltung über Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrates statt. Gestern abend wurden hier die Gefängnisse durch vier Soldaten geöffnet und das Straßenbild gewann durch das Passieren von entlassenen Gefangenen mit roten Rosetten an der Jacke ein eigenartiges Bild. Ansammlungen, die gestern nachmittags und gestern abend am Bahnhof erfolgten, verliefen ohne Ruhestörung. Inwieweit die Gerüchte zutreffend sind, daß die militärischen Kleiderkammern und das Proviantlager hier geplündert wurden, konnten wir nicht feststellen.“ Soweit die Schilderung der Geschehnisse in Bonn im General-Anzeiger vom 9. November.
Auch die Bonner Zeitung berichtet an jenem 9. November vergleichsweise gelassen: „Aufregung auch in Bonn. Gestern Nachmittag bildeten sich im Bahnhofsgebäude sowie vor dem Bahnhof und der Rheinuferbahn größere Ansammlungen, die auf irgend etwas warteten, angeblich auf die Führer der Arbeiter und Soldaten aus Köln aber auch auf die Marinesoldaten aus Kiel. Durch Neugierige, die aus der ganzen Stadt herbeiströmten, vergrößerte sich die Ansammlung gegen Abend, doch da es weder etwas zu sehen noch zu hören gab, ging man ebenso ruhig, wie man gekommen war, wieder heim. Zu Ausschreitungen ist es nicht gekommen. Die Züge und die Straßenbahn verkehrten ohne Störung.“
Die Deutsche Reichs-Zeitung schildert am 10 November die Vorgänge im beschaulichen Bonn sehr viel ausführlicher und etwas dramatischer: „[...] Am Nachmittag sammelte sich am Bahnhof der Rheinuferbahn eine große Menschenmenge an, welche eine Abordnung des Kölner und Kieler Soldatenrates erwartete. Es war wohl nur Neugierde, die die meisten trieb. Die ersten Neugierigen wurden durch andere abgelöst und so ging es bis zum Abend hinein. Durch die Stadt verbreiteten sich die wildesten Gerüchte, die in der Tat geeignet waren, einen Teil unserer Geschäftsleute mit bangen Befürchtungen zu erfüllen. Viele im Inneren der Stadt räumten ihre Schaufenster aus und ließen die Rolläden herunter; andere schlossen ihre Betriebe. Soldaten belebten vielfach das Straßenbild. Viele trafen von Köln ein, wo ihnen Seitengewehre und Achselstücke abgenommen worden waren. Gestern abend zog eine große Gruppe zu den hiesigen Gefängnissen, aus denen man dann die Gefangenen entließ. Zu Unruhen ist es bisher in Bonn nirgendwo gekommen. [...] Im Sitzungssaale des Rathauses fand heute früh eine Sitzung statt, in der ein Arbeiter-, Bürger- und Soldatenrat mit mehreren Ausschüssen gebildet wurde. In der Stadt wiederholte sich zum Teil das gestrige Bild. Auch hier nahmen Soldaten mit roten Abzeichen den ankommenden und abfahrenden Soldaten Waffen, Achselstücke und Kokarde ab. Die Straßen zeigten reges Leben. Es ist auch heute im Inneren der Stadt nicht zu Unruhen gekommen. Wie es heißt, sollen aus dem Proviantdepot und den Militärmagazinen in der Nacht verschiedene Sachen herausgeholt worden sein. Für die Bevölkerung liegt kein Anlaß vor, wegen ihres Besitzes in Besorgnis zu sein. Das Vorgehen in anderen Städten hat dies gezeigt. [...]“
Dass der Arbeiter- und Soldatenrat alsbald durch „Bürger“ ergänzt wurde, wird damit begründet, dass der Anteil der Arbeiter in Bonn geringer sei als in anderen Städten. So hat jetzt auch der Vorsitzende der Nationalliberalen Partei, Dr. Friedrich Krantz, der in der Bonner Lokalpolitik stets eine wichtige Rolle gespielt hat und bereits im zuvor gebildeten Bürgerausschuss vertreten war, als einer der drei Vorsitzenden des Rates wieder mit das Sagen.
Das gewohnte städtische Leben gerät aus dem Tritt: In derselben Ausgabe verkündet die Deutsche Reichs-Zeitung: „Die Zentrumsversammlung im Bürgervereins-Saal, die für Sonntag anberaumt war, findet nicht statt, da die beiden Redner infolge Sperrung von Eisenbahn zu der anberaumten Zeit von Berlin nicht hier sein können.“ „Das zweite Konzert des städt. Gesang-Vereins fällt aus.“ „Die vaterländische Filmvorstellung des Flottenvereins Jungdeutschland am kommenden Sonntag fällt in Anbetracht der Zeitverhältnisse und Verkehrsstörungen aus. [...]“ Aber das Operettentheater spielt ungerührt weiter: „Am heutigen Sonntag finden zwei Aufführungen der Operette „Schwarzwaldmädel“ statt.“ Die einzige Änderung: Der Beginn der Abendveranstaltung ist vorverlegt: „Diese Aenderung des früheren Anfangs ist infolge der neuen Verordnung notwendig geworden.“ (BZ vom 11. November)
Am 11. November berichtet die Bonner Zeitung aber auch – wie die übrigen Tageszeitungen – über Plünderungen in der Nacht vom 8. auf den 9. November, die in erster Linie ein militärisches Ausrüstungslager am Güterbahnhof und die Kleiderkammern in den Kasernen betrafen. Sogar Schüsse sollen gefallen sein. Im Vordergrund der Berichterstattung steht indes die Bildung des Arbeiter-, Bürger- und Soldatenrates sowie einer Reihe von Ausschüssen, darunter einem Sicherheitsausschuss, dessen Mitglieder für „strenge Bestrafungen bei Ordnungswidrigkeiten, namentlich bei Plünderungen uns Raub“ sorgen sollen. Darüber hinaus wird eine Ausgangssperre nach 9 Uhr verhängt. Oberbürgermeister Spiritus versichert, dass die Stadtverwaltung dem A.B.S, wie der Arbeiter-, Bürger- und Soldatenrat in der Presse alsbald abgekürzt wird, „jederzeit mit Rat und Tat zur Seite steht“.
Der General-Anzeiger rückt am 11. November eine „Volksversammlung“ in den Mittelpunkt der lokalen Meldungen. Zu der hatte der Arbeiter-, Bürger- und Soldatenrat eingeladen: „Schon um 3 Uhr füllte eine tausendköpfige Menge den großen Saal, und als gegen 5 Uhr die Versammlung eröffnet wurde, da standen noch Hunderte in den Gängen, auf der Empore und im Treppenhause, und Viele mußten, ohne Einlaß zu finden, wieder umkehren.“ Auf die angekündigten Redner, den Reichstagsabgeordneten Dr. Quarck, mussten sie allerdings vergeblich warten, denn der war, wie auch ein zweiter Referent, durch „Verkehrsschwierigkeiten“ verhindert. An deren Stelle trat der Vorsitzende des Arbeiter-, Bürger- und Soldatenrates, der Sozialdemokrat Kuhnert, der das Verhalten der Matrosen in Kiel rechtfertigte, von „Verbrüderungen an der Front“ sprach, die auf einen dauerhaften Frieden der „am Kriege beteiligten Völker“ hoffen ließen, berichtete, „daß die Front in voller Auflösung begriffen sei“ und die Bonner auf eine große Belastungsprobe in den kommenden Wochen vorbereitete. Grund seien „das Zurückfluten von elf Millionen Menschen“, die ungelöste Rohstofffrage, mögliche Arbeitslosigkeit.
Das Bekanntwerden der Waffenstillstandsbedingungen, deren Inhalt die Titelseiten füllt und allenthalben für Empörung sorgt, findet kaum Resonanz in den städtischen Meldungen. Der General-Anzeiger vom 12. November widmet lediglich der„Räumung und Verwaltung des linken Rheinufers“ seine ganze Aufmerksamkeit.
Während Carl Hauptmann auf der Titelseite der deutschen Reichs-Zeitung vom 12. November verkündet, dass nach Annahme „harten Bedingungen des Waffenstillstandes [...] der Sozialismus herrscht“, geht es in den Lokalnachrichten nochmals um die bereits erwähnte Volksversammlung, die hier aber explizit als sozialdemokratisch bezeichnet wird. Zitiert wird ausführlich der bereits erwähnte Kuhnert, einer der drei Vorsitzenden des Arbeiter-, Bürger- und Soldatenrates mit seiner Begründung der Zusammensetzung ebendieses Organs: „Während in anderen Städten die Arbeiterschaft die übergroße Mehrheit der Bevölkerung ausmacht, zählt sie in Bonn nicht einmal 35 Prozent der Gesamtbevölkerung. Es wäre nicht demokratisch, wenn wir unter diesen Verhältnissen das Bürgertum ausschalten wollten. Wir sind durch die Zusammensetzung des Rates nicht enttäuscht worden. Wir werden die Interessen der Arbeiter, die mit denen der Gesamtheit identisch sind, vertreten und sollte uns das in der Zusammenarbeit mit den Vertretern des Bürgertums nicht möglich sein, so werden wir den bürgerlichen Herren den Stuhl vor die Tür setzen.“
In dieser Ausgabe berichtet die Zeitung – wie auch die anderen Bonner Blätter – ausführlich über die ersten Sitzungen des Arbeiter-, Bürger- und Soldatenrates; der „ tritt bis auf weiteres täglich im Rathause zu Sitzungen zusammen“. Hervorgehoben werden die Einrichtung einer Bürgerwehr, die Aufnahme von Notstandsarbeiten, die Einquartierungsfrage, die Regelung des Zahlungsverkehrs. Sorgen bereiten „die noch anwesenden Matrosen“. Sie sind „so bald wie möglich zu entwaffnen und aus der Stadt zu entfernen“. Man gewinnt den Eindruck: In Bonn ist nicht nur der Krieg zuende, sondern auch die Revolution, die ohnehin im beschaulich-bürgerlichen Bonn keine Chance hatte. Untrügerisches Zeichen der Normalität: Kinos, Theater und andere Veranstalter sollen ihren Berieb fortsetzen, lediglich ab 8 Uhr abends schließen.
„Das siegreiche Vordringen der Truppen liess jedes deutsche Herz höher schlagen, mit Begeisterung wurden die Siegesmeldungen von den Fronten begrüsst.[...] Doch der übermächtige Zahl unserer Gegner mit ihren unerschöpflichen Hilfsquellen waren die Kräfte des Vaterlandes nicht gewachsen. Der Mangel an Lebensmitteln, von unseren Gegnern herbeigeführt und bei der langen Dauer des Krieges immer fühlbarer werdend, forderte vom Volke unerhörte Opfer und zermürbte mit der Zeit seine Widerstandsfähigkeit. Unruhige Elemente fanden damit leicht günstigen Boden zur Ausführung ihrer Absichten. So wurde denn der unglückliche Ausgang des Krieges, der Zusammenbruch des Volkes und die politische Umwälzung im Vaterlande unausbleiblich. Die Ereignisse im November haben alle Hoffnungen auf eine gute Zukunft begraben.“ Mit diesen Sätzen wird der vier Jahre dauernde Krieg im nachträglich geschriebenen Verwaltungsbericht der Stadt Bonn 1914-1918 zusammengefasst.
Der Arbeiter-, Bürger- und Soldatenrat, der am 9. November in Bonn gebildet worden war, zeichnete sich durch Kontinuität aus, denn die „alten“ Kräfte hatten auch jetzt maßgeblich das Sagen. Oberbürgermeister Spiritus blieb zunächst im Amt. Der Rat tagte zunächst jeden Tag, danach jeden zweiten Tag und hielt dann in unregelmäßigen Abständen bis zum 11. Dezember insgesamt 23 Sitzungen ab. Am 28. November schieden die Soldaten aus, da sich kein Militär mehr in Bonn aufhalten durfte. Vom 16.11. bis zum 4.12. marschierten die Truppen der 8. Armee durch Bonn. In dieser Zeit wurden Kasernen, Universität, die Landwirtschaftliche Akademie, Schulen und weitere öffentliche Gebäude mit Einquartierungen belegt; auch „Bürgerquartiere“ wurden bezogen. Laut Verwaltungsbericht waren insgesamt „ungefähr 5000 Offiziere, 100.000 Mann und 45.000 Pferde“ unterzubringen, die überdies die Rheinbrücke oder eine der schnell errichteten Behelfsbrücken überqueren mussten. Am 5. Dezember erreichten die ersten kanadischen Soldaten die Stadt – die Besatzungszeit begann.
Der Verwaltungsbericht resümiert: „Die große Umwälzung in Bonn ist verhältnismäßig ruhig und ohne nennenswerte Störungen vor sich gegangen. [...] Wenn aber die Umwälzung in Bonn einen befriedigenden Verkauf nahm, so ist das in erster Linie der Vernunft und dem gesunden Sinne seiner Bürgerschaft zu verdanken.“ (Verwaltungsbericht S. 233)
Bonner Zeitung (BZ)
Deutsche Reichs-Zeitung (DRZ)
General-Anzeiger (GA)
Verwaltungsbericht der Stadt Bonn 1914 - 1918
Chickering, Roger: Freiburg im Ersten Weltkrieg. Totaler Krieg und städtischer Alltag 1914 – 1918. Paderborn 2009.
Flemming, Thomas/Ulrich, Bernd: Heimatfront. Zwischen Kriegsbegeisterung und Hungersnot – wie die Deutschen den Ersten Weltkrieg erlebten. München 2014.
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Käppner, Joachim: 1918 – Aufstand für die Freiheit. München 2017.
Leonard, Jörn: Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt. München 2018.
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Sabine Harling