Nach Verdun!
Nachdem die Bonner Geschichtswerkstatt im Sommer 2011 im Rahmen ihres Projekts zum Ersten Weltkrieg die Kriegsschauplätze in Flandern bereist hatte, machten wir uns im folgenden Jahr am 2. und 3. Juni auf nach Verdun.
Wie kein anderer Ort steht Verdun symbolisch für die Schrecken des Großen Krieges. Was aber machte das Kampfgeschehen um Verdun zur „totalen Schlacht“, wie sie von vielen Historikern genannt wurde?
Laut Jörn Leonard („Die Büchse der Pandora“) waren die entscheidenden Faktoren
- eine extreme Gewaltverdichtung auf kleinem Raum;
- die Gleichzeitigkeit von Maschinenkrieg einerseits und Kampf von Mann gegen Mann andererseits;
- die symbolische Aufladung des Kampfes sowohl auf deutscher wie auf französischer Seite.
Durch die Tatsache, dass 78 % aller französischen Regimenter hier zum Einsatz kamen, wurde Verdun laut Leonard zufolge zu einem kollektiven Erfahrungsort. Denn die französischen Soldaten an der Front wurden nach einigen Tagen durch neue ersetzt, während die deutschen Soldaten, bisweilen bis zur totalen Erschöpfung kämpfend oder in schlammigen Schützengräben ausharrend, oft wochenlang auf Ablösung warten mussten.
Herfried Münkler („Der Große Krieg“) betont, dass für die Franzosen Verdun der „Ort des Standhaltens“ war, an dem tendenziell jeder Soldat teilhatte, während er für die Deutschen der Ort war, „aus dem die Todesmeldungen kamen“. Auf 300 km² fielen seinen Angaben zufolge 320.000 französische und 280.000 deutsche Soldaten.
Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich („Deutschland im Ersten Weltkrieg“) beziffern die Verlustzahlen mit 162.440 gefallenen Franzosen und 143.000 gefallenen Deutschen bedeutend niedriger. Hinzu kamen mehr als 100.000 Verwundete auf beiden Seiten. Damit aber war Verdun nicht die blutigste Schlacht dieses Krieges, denn die Kämpfe in Flandern und an der Somme haben Hirschfeld und Krumreich zufolge die in Verdun erlittenen Verluste weit übertroffen. Sie betonen indes die emotionale Bedeutung von Verdun: Keine Schlacht dieses Krieges sei jener von Verdun vergleichbar gewesen, und keine sei in der Literatur beider Völker stärker thematisiert worden.
Für Olaf Jessen („Verdun 1916“) bedeutet Verdun die „Enthegung des Krieges“ durch den Einsatz von Grünkreuz, Flammenwerfern, der stetig steigenden Menge und Größe der Artilleriegeschosse. Die Oberbefehlshaber beider Heere teilten diese Erfahrung der „entgrenzten Gewalt“ nicht; sie saßen sicher hinter der Front und oft in behaglichen französischen Schlössern. Die Ferne vom Kampfgeschehen beeinflusste sicher Einstellungen Entscheidungen.
Für mich persönlich ist der Ort auf das Engste mit dem Schicksal meines Großvaters verbunden, dem Vater meiner 1913 geborenen Mutter. Als er in dem Krieg zog, war sie keine zwei Jahre alt. Nichts weiß ich über diesen Mann außer jener Geschichte, die meine Großmutter zu erzählen pflegte: 1918 sei er bei Verdun verwundet worden, einem Kriegskameraden habe er noch zugerufen, für ihn sei jetzt der Krieg zuende: Heimatschuss. Und damit verliert sich bis heute jede Spur. Er wurde als vermisst gemeldet, und meine Großmutter wartete 10 Jahre, bis sie ihn für tot erklären ließ. Damit verzichtete sie in dieser Zeit auch auf die Witwenrente und bestritt den Lebensunterhalt für sich und ihre beiden Töchter mit Schneidern in Heimarbeit. Daran erinnerte mich stets ihre mechanische Singer-Nähmaschine, von der sie sich bis zu ihrem Tod nicht trennte.
Die eigentliche Schlacht um Verdun begann am 21. Februar 1916 mit einer deutschen Offensive am rechten Maasufer. Einem neunstündigen Trommelfeuer folgte der Vorstoß der Infanterie aus den Schützengräben heraus. Jetzt kamen Flammenwerfer und Giftgas zum Einsatz. Zum ersten Mal trugen die deutschen Soldaten bei ihrem Sturmangriff Stahlhelme.
Was war das Ziel dieser Offensive? In seinen Nachkriegsmemoiren beruft sich General von Falkenhayn, Chef des Generalstabs des deutschen Feldheeres, auf die von ihm so genannte „Weihnachtsdenkschrift“, die er vor Weihnachten 1915 dem Kaiser persönlich überreicht haben will. Ziel des Angriffs war dieser Schrift zufolge das Ausbluten – das sogenannte Weißbluten – der französischen Armee, die wegen der symbolischen Aufladung dieses Ortes gezwungen sein würden, hier bis zum letzten Mann zu kämpfen. Diese Denkschrift ist indes in keinem Archiv je gefunden worden, sodass die Historiker heute von einer nachträglichen Erfindung ausgehen, mit der Falkenhayn das Scheitern eines Durchbruchs zu kaschieren versuchte. Die Offensive sollte auf jeden Fall Bewegung in den festgefahrenen Stellungskrieg bringen. Denn bereits seit September 1914 standen sich auch hier deutsche und französische Truppen gegenüber, Teil einer Frontlinie, die insgesamt von der Kanalküste bis zur Schweizer Grenze reichte. Krumreich („Der Erste Weltkrieg. Die 101 wichtigsten Fragen“) zufolge waren die deutschen Soldaten davon überzeugt, dass die Stadt Verdun eingenommen werden sollte, um den Weg nach Paris zu öffnen. Falkenhayns nachträgliche Begründung müssen sie als blanken Zynismus und sinnloses Kalkül empfunden haben.
Die Festung Verdun ragte wie eine Ausbuchtung in diese Frontlinie hinein. Nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 mit der französischen Niederlage bei Sedan und dem Verlust Elsass-Lothringens hatte man hier mit dem Bau von sechs großen Forts und sieben weiteren Verteidigungsanlagen begonnen, um sich gegen erneute deutsche Angriffe zu schützen. Sie waren Teil eines Festungsriegels, der von Verdun bis Toul und von Épinal bis Belfort reichte. Aufgrund der wachsenden internationalen Spannungen waren die Bauarbeiten bei Verdun zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder aufgenommen worden, sodass die Stadt am Vorabend des Ersten Weltkriegs von 43 Werken und Forts, die zwei Verteidigungsringe bildeten, umgeben war. In Verdun selbst befand sich eine Zitadelle, ein unterirdisches Stollensystem mit einer Gesamtlänge von sieben Kilometern, das von 1890 bis 1893 angelegt worden war und mit seiner Kaserne für 6.000 Soldaten, seinen Munitionsdepots, seinem Lazarett, der Telefonanlage, der Zentralheizung und einer Bäckerei von großer logistischer Bedeutung war.
Olaf Jessen („Verdun 1916“) zufolge waren französische Militärs in Erwartung einer deutschen Offensive um die Jahreswende 1915/16 sogar bereit, Stadt und Festungen zu opfern, sich hinter die Maas zurückzuziehen und so die Frontlinie zu begradigen: Noch war Verdun kein nationales Symbol. Mit Ministerratspräsident Briand, der sich nach Beginn der deutschen Offensive in den frühen Morgenstunden des 25. Februar vehement gegen die Aufgabe Verduns aussprach, siegte die zivile Regierung über das Militär: Der Primat der Politik war wieder hergestellt. Joffre, Oberbefehlshaber aller Streitkräfte an der Westfront, Held der Marne-Schlacht, schloss sich nun Briands Argumentation an. Am 26. Februar 1916 wurde General Pétain das Kommando über den gesamten Sektor Verdun übertragen: Um jedes Preis, so seine Devise, sollte die Verdun-Front gehalten werden.
Zu diesem Zeitpunkt war der deutsche Angriff, der durch anhaltend schlechtes Wetter zunächst immer wieder hinausgezögert worden war, in vollem Gange. Heftigem Artilleriebeschuss war der deutsche Vormarsch gefolgt, und am 25. Februar war das Fort Douaumont praktisch widerstandslos vom Brandenburgischen Infanterieregiment 24 erstürmt worden. Dann aber geriet die deutsche Offensive ins Stocken. General Pétain hatte begonnen, für einen gewaltigen Nachschub an Truppen und Ausrüstung zu sorgen. 100.000 Soldaten wurden innerhalb weniger Tage an die Front gebracht. In den kommenden Monaten wurde zwischen dem Eisenbahnknotenpunkt Bar-le-Duc und der Stadt Verdun eine 70 Kilometer lange Schotterstraße angelegt und durch eine Reserve-Division, bestehend aus 10.000 Mann, ständig befahrbar gehalten, auf der wöchentlich 90.000 Soldaten und 50.000 Tonnen Material auf rund 9.000 Fahrzeugen transportiert wurden. Der französische Schriftsteller Maurice Barrès :gab ihr den Namen „Voie Sacrée“, der heilige Weg. Verdun war nun endgültig zum Symbol des Widerstandes geworden. Noch heute zieren weiß-rote Kilometersteine mit grünem Stahlhelm den Straßenrand der „Voie Sacrée“.
Für die Soldaten beider Nationen begann „die Hölle von Verdun“. Verlustreiche deutsche Angriffe und französische Gegenstöße lösten einander ab. Artilleriegeschosse verwandelten das Gelände in eine Mondlandschaft, Dörfer und Wälder verschwanden. Deutsche und französische Soldaten lagen sich oft im Abstand von wenigen Metern einander gegenüber. Schwerpunkte der Kämpfe waren die großen Forts Douaumont und Vaux sowie die Region um die Dörfer Fleury und Douaumont. Aus der Offensive war eine mörderische Abnutzungsschlacht geworden.
Am 11. Juli 1916 – inzwischen hatte am 1. Juli die alliierte Offensive an der Somme begonnen, die die Verlegung deutscher Truppen erforderte – unternahmen deutsche Truppen einen letzten Vorstoß auf Verdun. Nach seinem Scheitern wurde Falkenhayn durch Feldmarschall Hindenburg abgelöst, der im September die Beendigung aller Angriffe befahl. Stattdessen sollte die gewonnene Linie als Dauerstellung ausgebaut werden. Die Kämpfe gingen aber dennoch weiter. Am 24, Oktober 1916 starteten die Franzosen einen neuen Angriff: Fort Douaumont wurde von den letzten 200 deutschen Soldaten aufgegeben. Bei dieser wie auch der folgenden Offensive am 15. Dezember 1916 machten französische Truppen bedeutende Geländegewinne. Am Ende des Jahres und nach 300 Tagen erbittertster Kämpfe verlief die Frontlinie ungefähr wie vor der Schlacht zu Beginn des Jahres.
Im August 1917 schließlich begann die „zweite Schlacht von Verdun“, durch die die deutsche Armee weiter zurückgedrängt wurde. Aber erst im Herbst 1918 fügten die von General Pershing angeführten amerikanischen Truppen den deutschen die entscheidende Niederlage zu.
„Das mörderische Inferno der „totalen Schlacht“ ist seit 1916 in die Landschaft eingebrannt (...). Alles liegt noch da, nur leicht eingeebnet, wie damals unmittelbar nach der Schlacht: die Forts und Blockhäuser und auch noch etliche Schützengräben. Und noch immer wird Kriegsmaterial gefunden, genau wie menschliche Knochen oder Reste von Kleidungsstücken“, heißt es bei Hirschfeld/Krumeich. In der Tat geht von dieser versehrten Landschaft eine Tristesse aus, der man sich kaum entziehen kann. Während unserer Exkursion wurde die verstärkt durch Nieselregen und verhangenen Himmel.
Unsere erste Station war an jenem Samstag Morgen das Beinhaus von Douaumont. Der Grundstein für dieses gewaltige Monument mitten auf dem ehemaligen Schlachtfeld wurde bereits am 22. August 1920 gelegt. 10 Jahre dauerte es, bis die Gedenkstätte – ein 46 Meter hoher Turm inmitten eines knapp 140 Meter langen Säulenganges sowie eine Kapelle – eingeweiht werden konnte. Der granatförmige Turm nach den Plänen des Architekten Léon Azéma steht Olaf Jessen zufolge als „Totenleuchtturm“ in der frühmittelalterlichen Tradition Aquitaniens. Unterhalb des Kreuzgangs befindet sich eine Krypta, in deren 18 Kammern die Gebeine von rund 130.000 deutschen und französischen Soldaten liegen. Jede Gruft entspricht einem Sektor des Kampffeldes von Verdun. Hinzu kommen zwei weitere Kammern an den äußersten Enden des langgestreckten Baus, in denen die sterblichen Überreste der Soldaten aus besonders heftig umkämpften Regionen zu finden sind. Fenster geben ab und an den Blick auf grausigen Knochenberge frei. Und immer noch stoßen Wanderer und Landwirte in Wäldern und auf Feldern auf Knochen, die bis heute hier beigesetzt werden.
Als wir um die Mittagsstunde den Turm bestiegen hatten, begann mit ohrenbetäubenden Lärm die 2.300 Kilogramm schwere Siegesglocke zu läuten. Von der Höhe blickten wir hinunter zum Friedhof, auf den ab 1925 jene 16.142 französische Soldaten umgebettet wurden, die namentlich identifiziert werden konnten – eine schier unübersehbare Zahl von Kreuzreihen. Der bevorstehende 100-Jahr-Feier warf bereits ihre Schatten voraus: Ein Teil des Friedhofs war abgesperrt, da man offensichtlich dabei war, die in die Jahre gekommenen und angegrauten Kreuze zu restaurieren und zu reinigen. Auch das Beinhaus selbst war zum Zweck der Renovierung bereits teilweise eingerüstet.
Vor dem Beinhaus standen am 2. September 1984 Hand in Hand der französische Staatspräsident Francois Mitterand und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, dessen Vater an den Kämpfen bei Verdun beteiligt war. Die deutsch-französische Versöhnung sollte mit dieser Geste bekräftigt werden. (http://www.verdun-douaumont.com/)
Nördlich des Beinhauses von Douaumont befindet sich das Mahnmal des Bajonettgrabens, unser nächstes Ziel, ein Bauwerk aus Beton, in dessen Inneren aus einer Erdaufschüttung neun Holzkreuze und einige Bajonette ragen. Der Legende nach sollen hier französische Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett während eines feindlichen Artilleriebeschusses im Stehen bei lebendigem Leibe verschüttet worden sein. Die Wirklichkeit sah wohl anders aus. Eine Exhumierung ergab, dass die Toten keinesfalls standen, vielmehr nebeneinander lagen. Man geht heute davon aus, dass es Deutsche waren, die diese Stelle als Massengrab nutzten und Gewehre zu dessen Kennzeichnung benutzten.
Die nächste Station unserer Erkundungsreise war Fleury. Nichts ist von diesem Dorf in der Nähe des Forts Douaumont übrig geblieben, in dem 1913 noch 422 Menschen lebten. Als am 21. Februar 1916 die deutsche Offensive begann, erfolgte der Befehl zur Evakuierung. Fleury wurde während der Kämpfe in dieser Region komplett zerstört. Von Juni bis August 1916 lag es inmitten der Frontlinie. Rund 16 Mal wechselten die Besatzer dieses Stückchens Erde, bis französische Soldaten es am 18. August endgültig zurückeroberten.
Per Gesetz vom 17. April 1919 wurden stark verwüsteten Gebiete enteignet und zu sogenannten roten Zonen erklärt. Dazu gehörte auch die Gegend um Fleury, deren Betreten wegen der Kampfspuren und Munitionsreste zu gefährlich war. So wurde das Dorf – wie auch acht weitere in der Region - nicht wieder aufgebaut. Erst 1972 wurden die drei Straßen, aus denen es einst bestanden hatte, in der Weise rekonstruiert, dass man einem beschilderten Weg auf und ab durch überwucherte Minenkrater folgen kann und durch kleine Steinsäulen am Wegesrand informiert wird, was einst an dieser Stelle stand: die Kirche, die Bürgermeisterei, die Schule, die Bäckerei, die Schusterei, die Schmiede etc. 1979 wurde eine Kapelle zum Gedenken an die errichtet, die einst hier lebten, aber auch an jene, die hier während der Kämpfe starben.(http://www.ww1battlefields.co.uk/verdun/fleury.html)
Eine kurze Wanderung führte uns zum Unterstand der Quatre Cheminées, der „Vier Schornsteine“. Unter dem Hügel oberhalb der Schlucht Ravin de Vignes verbirgt sich in mehr als sieben Meter Tiefe eine 70 Meter lange unterirdische Galerie, in der französische Gefechtsstände und Verbandsplätze untergebracht waren. Ins Freie ragen die markanten Belüftungsschächte, die „cheminées“.
Die letzte Station des Tages war das bereits mehrfach erwähnte Fort Douaumont, das während des Krieges solch eine bedeutende Rolle spielte. Seine Eroberung durch deutsche Soldaten wurde an der „Heimatfront“ propagandistisch ausgeschlachtet und versetzte Deutschland in einen wahren Siegesrausch. Heute können die Übereste besichtigt werden, nachdem sie 1970 unter Denkmalschutz gestellt worden waren Ein Rundgang – begleitet durch einen Audioguide – führt durch eine Kasematte und durch mehrere hundert Meter lange Stollen auf zwei Ebenen. Aufenthaltsräume, Schlafplätze, Küchen: Es ist eisig kalt, feucht, das Wasser tropft von Wänden und rostenden Eisenrohren – eine beklemmende Atmosphäre. Wir waren wohl alle froh, als wir wieder ans Tageslicht kamen.(http://www.ww1battlefields.co.uk/verdun/douaumont.html)
Am Abend erreichten wir die Verdun. 1918 lag die Stadt in Schutt und Asche. Über 2.000 Gebäude waren zerstört, und nur zögernd kehrten die geflohenen Einwohner zurück. Es fehlte nicht nur an Wohnraum; auch die Versorgungslage war katastrophal, und es dauerte gut 10 Jahre, bis der Wiederaufbau abgeschlossen war: Erst am 25. Juli 1929 konnte man mit einem großen Fest die „Wiedergeburt“ der Stadt Verdun feiern. An der Stadtmauer erinnert das monumentale Denkmal „Aux Enfants de Verdun“ an den Widerstand gegen die deutschen Truppen. Gemäß der Devise von 1916 „On ne passe pas“ (Keiner kommt durch) bilden fünf überlebensgroße Soldaten verschiedener Waffengattungen Seite an Seite stehend eine geschlossene Mauer: Sie stehen für das Heer, die Kolonialtruppen, die Infanterie, die Kavallerie und die Artillerie. Im Sockel sind die Namen der Einwohner von Verdun eingemeißelt, die im Laufe des Kriegs gefallen sind.
17 Regierungen verliehen Verdun Auszeichnungen für seine Rolle im Ersten Weltkrieg. Der japanische Tenno ließ ein Samurai-Schwert überreichen. Poincaré ehrte die Stadt mit der „légion d’honneur“, dem höchsten Verdienstorden, den Frankreich zu vergeben hat.
Am nächsten Morgen besuchten wir zunächst das Mémorial de Verdun, das 1967 an der Stelle des alten Bahnhofs von Fleury errichtet wurde. Die Gedenkstätte ist zugleich Museum und galt seinerzeit als beste Einführung für den Besuch der Schlachtfelder von Verdun. Es versteht sich in erster Linie als Ort der Versöhnung, an dem des Krieges aus französischer und deutscher Sicht gedacht werden soll. 2014 ist es geschlossen und soll erst 2015 nach Umgestaltung und sicherlich angepasst an das digitale Zeitalter wieder eröffnet werden.
Im Obergeschoss waren zwei Flugzeuge ausgestellt, eine französische Nieuport, eine deutsche Fokker. Das Geschehen des Ersten Weltkriegs, das tägliche Leben in den besetzten Gebieten sowie hinter der Front und die Kämpfe um Verdun wurden anhand von Bild- und Tondokumenten, von Fotos, Karten, Uniformen und Ausrüstungs- und Alltagsgegenständen nachempfunden. Das untere Stockwerk wurde vor allem eingenommen von einer Nachbildung des Geländes um Verdun, wie es zu Kriegszeiten aussah: eine Mondlandschaft durchzogen von Schützengräben, versehrt durch Granateinschläge, übersät mit Eisentrümmern und Stacheldrahtresten. Hinzu kamen als Ausstellungsobjekte schwere Ausrüstungsgegenstände wie Geschütze, Küchenwagen, eine Transportlaster, der an den „Voie Sacrée“ erinnerte. (www.memorialdeverdun.fr)
Wieder zurück in Verdun, besichtigten wir die Zitadelle: Seit den späten 1870er Jahren entwickelte sich Verdun zur Garnisonsstadt, in der im Mai 1914 an die 27.000 Soldaten untergebracht waren. Das bereits erwähnte unterirdische Stollensystem der Zitadelle ist heute ein Museum, das gänzlich aus der Zeit gefallen ist. Mit einem Bähnchen fährt man hinunter in ein Schaufensterpuppen-Disneyland mit Elementen aus der Geisterbahn der Jahrmärkte der 1950er und 1960er Jahre. Unvermutet stoppt die Bahn, das Licht geht an und beleuchtet insgesamt 15 Szenen aus dem alltäglichen Leben in der Zitadelle während der Kriegszeit. Unterstützt wird die lightshow durch Film- und Toneinspielungen. So blickten wir beispielsweise in ein Lazarett, in die Backstube, in den Speisesaal oder nahmen an einer Lagebesprechung teil. In unserem Hightech-Zeitalter „hatte das was“ – zumindest für mich.
Dieser Ort hat noch eine weitere Bedeutung für Frankreich, denn am 10. November 1920 wählte hier der Soldat Auguste Thin unter acht Särgen mit den nicht identifizierten Überresten von französischen Soldaten, die von den wichtigen Schlachtfelder hierher gebracht worden waren, den Sarg des „Unbekannten Soldaten“ aus. Der wurde am Tag darauf unter dem Pariser Triumphbogen beigesetzt. Thin gehörte dem Regiment Nr. 132 an. Er addierte die Zahlen und wählte den sechsten Sarg. Auch dieses Ereignis wird „unter Tage“ nachgestellt. Diese Zeremonie unterstrich die Bedeutung, die Verdun im kollektiven Gedächtnis zugemessen werden sollte.
Beklemmend war für mich der anschließende Besuch der nördlich von Verdun gelegenen Anhöhe Homme Mort mit dem grausigen Skelett-Denkmal: der Gestalt eines Toten, der aufrecht auf seinem Grab steht. „Ils n’ont pas passé“, lautet die Inschrift im Sockel - in leichter Abwandlung der Durchhalteparole „On ne passe pas“ von 1916. Die wiederum nahm Bezug auf den Tagesbefehl, den General Nivelle am 23. Juni 1916 ausgab: «Vous ne les laisserez pas passer, mes camarades!» Im März jenes Jahres fanden hier heftige und äußerst verlustreiche Kämpfe statt, die dazu führten, dass der Gipfel 12 Meter an Höhe einbüßte. Eigentlich hatten wir auf dem Höhenzug eine Wanderung vorbei an den Überresten der deutschen Stellungen zum zerstörten Dorf Cumières machen wollen, aber der Regen war heftiger geworden, ein Umstand, der im Grunde dem Charakter der trostlosen Szenerie entsprach.
Am frühen Nachmittag besuchten wir die Anhöhe von Vauqois, etwa 35 Kilometer nordöstlich von Verdun. Auch hier stand einst ein Dorf mit 168 Einwohnern. Sowohl für die Deutschen als auch für die Franzosen war dieser Hügel ein wichtiger Beobachtungsposten; das erklärt die Hartnäckigkeit, mit der die feindlichen Truppen diesen Punkt zu erobern und zu behaupten trachteten. Am 24. September 1914 hatte zunächst die deutsche Armee die Anhöhe besetzt und zu einer kleinen Festung ausgebaut. Am 4. März 1916 konnten die Franzosen den Widerstand der Verteidiger brechen, sie aber nicht gänzlich vertreiben. So begann auf engstem Raum ein Stellungskrieg, der zum großen Teil unterirdisch geführt wurde. Beide Seiten trieben Stollen in den Berg mit dem Ziel, unter die Stellung des Gegners zu gelangen und den Feind mit immer größeren Sprengladungen in die Luft zu jagen. Bei der größten Sprengung zündeten die Deutschen eine Ladung von 60.000 Kilogramm, die 108 Franzosen tötete und die feindlichen Stellungen schwer beschädigte.
Schließlich trennten 10 bis 20 Meter tiefe Krater die vordersten Linien der feindlichen Verbände, die nur wenige Meter von einander entfernt lagen. Das Stollennetz der Deutschen hatte eine Länge von 17 Kilometern erreicht, und das auf einem Territorium, das gerade mal 1.500 Meter lang und zwischen 50 und 250 Meter breit war. Über 500 Sprengungen hatten das, was einst das Dorf Vauquois war, in eine bizarre Mondlandschaft verwandelt, ein makabrer Anblick, der sich amerikanischen Truppen bot, als sie am 26. September 1918 den mittlerweile strategisch unbedeutenden Ort erreichten.
Der Scheitelpunkt des Hügels liegt heute 18 Meter tiefer als 1914. Auch fast 100 Jahre später ist es für mich einer der beklemmendsten Kriegsschauplätze, an dem deutlich wird, auf welch engem Raum und mit welch brutalen Mitteln dieser Kampf geführt wurde. Ein beschilderter Rundgang führt durch die Sprenglöcher und Granattrichter der Vauquois-Höhe, die von einem Denkmal mit der Inschrift „Aux combattants et aux morts de Vauquois“ überragt wird. Der französische Verein „Les amis de Vauquois“ bietet in der Regel sonntags auch Führungen durch die unterirdischen Anlagen an. Den Zeitpunkt hatten wir allerdings verpasst.(http://vauquois.guerre.14.18.pagesperso-orange.fr)
Die letzte Station war der Meuse-Argonne American Cemetery in Romagne-sous-Montfaucon, der größte amerikanische Friedhof auf europäischem Boden, der bereits am 14. Oktober 1918 errichtet wurde. 14.246 Soldaten sind hier begraben; die meisten von ihnen starben zwischen dem 26. September und dem 11. November 1918. Sie wurden zunächst provisorisch auf den Friedhöfen der Regionen beigesetzt, in denen sie gefallen waren und 1922 überführt. In 486 Grabstätten liegen die sterblichen Überreste von Soldaten, die nicht identifiziert werden konnten. Darüber hinaus gibt es eine „Mauer der Verschollenen“, auf der die Namen der 954 Soldaten eingraviert sind, die als vermisst gelten.(http://www.cheminsdememoire.gouv.fr/de/amerikanischer-friedhof-meuse-argonne)
Für mich persönlich war unsere Exkursion nach Verdun die eindrucksvollste der vier Fahrten, die mich bislang auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs geführt haben, denn hier wurde mir am deutlichsten bewusst, welche Spuren der Große Krieg bis heute hinterlassen hat und in welcher Weise er noch immer die Landschaft prägt.
Sabine Harling
Weiterführende Literatur:
Speziell zu den historischen Stätten in und um Verdun:
Soudagne, Jean-Pascal (Hrsg.): Geschichtliche Reise durch Verdun. Rennes 2009.
Valroger, Amaury de (Hrsg.): Verdun, Argonne, Saint-Mihiel. Guides illustrés Michelin des champs de bataille 1914-1918. Boulogne-Billancourt 2011
Allgemein:
Hirschfeld, Gerhard / Krumeich, Gerd: Deutschland im Ersten Weltkrieg. Frankfurt am Main 2013.
Jessen, Olaf: Verdun 1916. München 2014.
Krumeich, Gerd: Der Erste Weltkrieg. Die 101 wichtigsten Frage. München 1914.
Leonhard, Jörn: Die Büchse der Pandora.
Münkler, Herfried: Der Große Krieg – Die Welt 1914 bis 1918. Berlin 2013.