Auf Umwegen an die Marne
Vom 3. bis zum 7. September 2014 reisten drei Mitglieder der Bonner Geschichtswerkstatt auf Spurensuche erneut nach Frankreich. Das Ziel sollte die Marne sein, bis zu der deutsche Truppen am 2. September 1914 – mithin fast exakt 100 Jahre zuvor – vorgedrungen waren. Paris war bedroht, die französische Regierung wich nach Bordeaux aus. General Joffre, Oberbefehlshaber der französischen Armee, erwog, seine Truppen hinter die Seine zurückzuziehen und die Hauptstadt dem Feind zu überlassen.
Dass der deutsche Angriff gestoppt wurde, dass die Truppen sich schließlich in die Ardennen zurückziehen mussten, werden die Franzosen später als das „Wunder an der Marne“ bezeichnen. Was geschah, war indes weniger ein Wunder, sondern vielmehr die Folge strategischer Fehlplanungen, katastrophaler Kommunikation zwischen den Armeeführern, mangelhafter Lagebeurteilungen auf Seiten der Deutschen einerseits und extremer Erschöpfung der Soldaten nach Fußmärschen von insgesamt rund 500 Kilometern mit schwerem Gepäck andererseits.
Zunächst schien der Vormarsch trotz des unerwartet heftigen belgischen Widerstandes und vereinzelter Grenzschlachten erfolgreich zu sein (vgl. Bericht über die Exkursion in die Champagne). So groß war die Zuversicht; dass Generalstabchef von Moltke zwei Armeekorps von der Westfront nach Ostpreußen verlegte, die die dortigen Armeen bei der Abwehr russischer Truppen unterstützen sollten. Als im Westen der Gegner – Franzosen und Briten, die nach Kriegseintritt ab Mitte August in Frankreich gelandet waren - zurückwich, verzichtete der Oberkommandierende der 1. Armee, von Kluck, darauf, gemäß dem Schlieffen-Plan Paris vom Westen her zu umrunden, und setzte in südöstlicher Richtung zur Verfolgung des vermeintlich flüchtenden Feindes an. Von Bülow, Oberbefehlshaber der 2. Armee, hatte indes angesichts des greifbar erscheinenden Sieges seinen Soldaten eine Ruhepause gegönnt. So entfernten sich die Armeen immer mehr von einander, und es entstand am Ende eine etwa 40 Kilometer breite Lücke zwischen ihnen. Zudem fiel die Kommunikation zwischen beiden Armeen infolge mangelhafter Funktechnik phasenweise komplett aus. Ein britisches Expeditionskorps stieß von Süden in die Lücke vor, während französischen Truppen von Paris aus offensiv gegen die rechte Flanke der 1. Armee vorgingen. Der Transport französischer Regimenter an die neue Front nordöstlich von Paris wurde rasch zu einem Mythos hochstilisiert: Der Militärgouverneur der Hauptstadt, Joseph Simon Galliéni, ließ alle Pariser Taxis requirieren, die am 7. September rund 4.000 Soldaten über eine Strecke von etwa 50 Kilometer transportierten.
Zwischen Meaux und Verdun - an der Marne und ihren Nebenflüssen Ourcq, Petit Morin und Grand Morin - waren alsbald rund zwei Millionen deutsche, französische und britische Soldaten in blutige Kämpfe verwickelt, die später als die Marne-Schlacht bezeichnet wurden. Generalsstabschef von Moltke entsandte einen Stabsoffizier, Oberleutnant Hentsch, an die Front mit dem Auftrag, er solle sich einen Überblick über die Lage vor Ort verschaffen. Und die beurteilte er äußerst kritisch. Von Bülow war es schließlich, der daraufhin den Rückzug von Einheiten der 2. Armee anordnete; damit aber den Abstand zur 1. Armee noch stärker vergrößerte. Stündlich stieg für die das Risiko, abgeschnitten zu werden. So gab auch Kluck gegen 14 Uhr des 9. September den Befehl, die Kämpfe einzustellen. Am 11. September traf Moltke die Entscheidung, alle Angriffe zu beenden und die Truppen bis an den 50 Kilometer weiter nördlich gelegenen Fluss Aisne zurückzuziehen. Die Fronten erstarrten.
Für von Moltke bedeutete das Desaster das Ende seiner Karriere: Am 14. September entließ Wilhelm II. seinen Generalstabchef; seine Nachfolge trat der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn an.
Meaux sollte das Ziel unserer Reise an die Marne sein; von dort aus wollten wir unsere Spurensuche aufnehmen. Aber das Jahr der 100. Wiederkehr des Kriegsbeginns mit seinen vielfältigen Veranstaltungen lud zu Umwegen ein.
Unser erstes Ziel war das Musée royal de l’Armée et d’Histoire militaire in Brüssel, das mit seinen unzähligen Uniformen und Waffen in verstaubten Glasvitrinen eher dem 19. als dem 21. Jahrhundert zuzugehören scheint. Die aktuelle Ausstellung „Expo 14-18“ steht jedoch in eindrucksvollem Kontrast zur Dauerausstellung. Im Eingangsbereich kann sich der Besucher per Monitor über das Schicksal verschiedener belgischer Städte informieren, die unter dem deutschen Einmarsch gelitten haben: über Löwen, dessen berühmte Bibliothek in Flammen aufging, über Dinant, wo am 23. August insgesamt 674 Einwohner von deutschen Soldaten ermordet wurden, um nur zwei Beispiele zu nennen. In fünf Abschnitten wird anschließend die Geschichte Belgiens vom Einmarsch der deutschen Truppen, über die deutsche Besatzung bis zur Befreiung dargestellt. Die umfangreiche Sammlung von Exponaten wird ergänzt durch Film- und Tondokumente und durch Installationen wie z. B. die Rekonstruktion einer Gefängniszelle, in der Widerstandskämpfer auf ihre Hinrichtung warten mussten, oder den elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun an der Grenze zu den Niederlanden, durch den die Flucht der Belgier in das freie Nachbarland verhindert werden sollte. Und immer wieder kreuzen sich in der Ausstellung die Wege von zwei Hauptprotagonisten: von Albert I., dem belgischen König, und Wilhelm II, dem deutschen Kaiser, dessen riesiges Himmelbett aus dem Großen Hauptquartier in Spa fast einen ganzen Raum einnimmt. (www.expo14-18.be)
Anschließend besuchten wir die Gedenkstätte The Vimy Ridge National Historic Site of Canada auf der Anhöhe 145, dem höchsten Punkt auf einem 14 Kilometer langen Höhenrücken. Sie liegt ungefähr 10 Kilometer nördlich vom französischen Arras. Während des Ersten Weltkriegs war diese Erhebung ein wichtiger Teil des deutschen Verteidigungssystems. Vergebens hatten französische Truppen 1914 und 1915 versucht, diese Stellung einzunehmen. Nach verlustreichen Kämpfen vom 9. bis zum 12. April 1917 gelang es kanadischen Divisionen, unterstützt von einer britischen Division und einer Reihe von Artillerieeinheiten, den gesamten Bergrücken zu erobern. 3.598 Kanadier kamen dabei ums Leben, über 6.000 wurden verletzt.
11 Jahre – bis 1936 - dauerte es, das überaus eindrucksvolle und weithin sichtbare Monument nach den Plänen des kanadischen Bildhauers und Architekten Walter Seymour Allward zu errichten. 6.000 Tonnen Kalkstein aus kroatischen Steinbrüchen wurden benötigt, um die beiden Pylonen mit den eingemeißelten überlebensgroßen Figuren zu errichten. Eine trauernde Frauenfigur – in einen Mantel gehüllt – ist aus einem einzigen 30 Tonnen schweren Steinblock gehauen und blickt in das Tal. Sie soll Kanada symbolisieren, eine (damals junge) Nation, die um ihre Toten trauert. In die Wände des Monuments sind die Namen von 11.185 kanadischen Soldaten eingraviert, die in Frankreich gefallen sind und deren Grabstätte bei Errichtung der Gedenkstätte unbekannt war. Mehr als 7.000 kanadische Soldaten sind auf Friedhöfen im Umkreis von 20 Kilometern beerdigt. Insgesamt verloren rund 66.000 kanadische Soldaten in Frankreich ihr Leben.
Die Erinnerungsstätte wird ergänzt durch ein Besucherzentrum, in dem u.a. ein Film über den Einsatz kanadischer Soldaten in Europa informiert, und ein System rekonstruierter Schützengräben. Unterirische Anlagen können auf einer geführten Tour erkundet werden. Auf der anderen Straßenseite erinnert ein Mahnmal an die Toten einer marokkanischen Division, die 1915 gegen die Deutschen kämpfte. Ihr Ziel war es, zum ersten Mal die feindliche Front bei der Anhöhe 140 zu durchbrechen. Schilder warnen vor dem Betreten der von Granattrichtern gezeichneten, inzwischen mit Gras überwucherten Landschaft: „Danger. No entry. Undetonated explosives.” Die dort weidenden Schafe kümmerte das nicht. (www.vac-acc.gc.ca)
Wir mussten ein paar Kilometer zurück nach Norden fahren, um im Louvre Lens die Sonderausstellung „The Disasters of War – 1800-2014 zu besichtigen. In zwölf Sälen werden Gemälde, Fotografien und Installationen präsentiert, die die Napoleonischen Kriege, die Jahre der Eroberung, den Krimkrieg, den Amerikanischen Bürgerkrieg, den Krieg von 1870/71, den Ersten Weltkrieg, den Spanischen Bürgerkrieg , den Zweiten Weltkrieg, die französischen Kriege in Indochina und Algerien sowie den Vietnamkrieg thematisieren. Zwei weitere Säle zeigen Werke, die sich mit den derzeitigen Kriegen befassen.
Am Abend erreichten wir Arras; Zeit noch, bei Dunkelheit das britische Ehrenmal und die alte Zitadelle anzuschauen.
Am nächsten Morgen besuchten wir nach einem Abstecher ans Meer den in Küstennähe gelegenen chinesischen Friedhof von Noyelles-sur-Mer. Mit seinen 825 weißen Grabsteinen, versehen mit chinesischen Schriftzeichen und ihrer französischen Entsprechung, ist es der größte chinesische Friedhof Frankreichs. Was ist der Hintergrund? Am 30. Dezember 1916 kam es zu einer Vereinbarung zwischen Großbritannien und China, der zufolge sich Tausende von Nordchinesen für drei Jahre verpflichteten, gegen einen geringen Lohn für die Briten zu arbeiten. Die ersten Arbeitskräfte kamen im April 1917 an. Zwischen 1917 und 1919 lebten über 12.000 Chinesen in einem Lager nahe Noyelles und schufteten beim Bau von Munitionslagern, Eisenbahnlinien und Lazaretten. Sie „säuberten“ Schlachtfelder und begruben die Toten. Frei bewegen durften sie sich nicht. Viele überlebten die harte und entbehrungsreiche Arbeit nicht; die meisten aber fielen 1919 der Spanischen Grippe zum Opfer, denn aufgrund der eingegangenen Verpflichtung konnten sie 1918 noch nicht ausreisen. Erst später kehrten die Überlebenden zurück, aber einige blieben für immer.
Auf dem Weg nach Compiègne legten wir einen Zwischenstopp in Rollot ein. Außer einem Denkmal – eine Mutter umarmt und küsst ihren ins „Feld“ ziehenden Sohn – erinnert hier nichts an den Krieg. Es gibt kein Geschäft, kein Lokal in den wenigen, fast menschenleeren Straßen; ein Schild verweist auf einen Festsaal. Was also veranlasste uns dazu, hier anzuhalten? Der Grund ist rein persönlich: Bei Rollot fiel im vom deutschen Militär so genannten Rolett-Wäldchen mein Onkel Friedrich: am 30. März 1918 während der letzten großen Frühjahrsoffensive der deutschen Armee. Er wurde 20 Jahre alt. Ich habe das Schreiben, mit dem die Eltern über den Tod des Sohnes informiert werden, aufbewahrt. Dort ist in schwülstiger Sprache zu lesen, dass er an allen Schlachten und Kampfhandlungen, in denen das Inf. Reg. No 78 glorreiche Siege errang, beteiligt war, dass er mit dem Eisernen Kreuz II ausgezeichnet wurde, dass er 1917 dem Inf. Reg. 465 zugewiesen wurde, das, in vorderster Linie kämpfend, zu den bestbewährten gehörte, dass er sich durch seinen Ruhm, den er errang, selbst unsterblich gemacht habe. „Der stirbt nicht glücklich, der zu lange lebt“ – Mit diesen Worten endet der Brief. Kann das ein Trost für die Eltern gewesen sein? Ich besitze ein Foto des jungen Mannes, aufgenommen im August 1917, ein gutes halbes Jahr vor seinem Tod. Da sitzt er in Uniform, mit ernster Mine einen Brief lesend, lässig die Beine übereinander geschlagen in einem Lehnstuhl am Fenster. Arrogant wirkt er. Ob mein Vater, acht Jahre jünger, den großen Bruder, der fernab der „Heimatfront“ so große Heldentaten vollbrachte, bewunderte, vielleicht sogar beneidete? Ich habe ihn nie danach gefragt.
Am Nachmittag erreichten wir den Wald von Compiègne: Hier wurde in einem ehemaligen Speisewagen, der zum Büro des Oberkommandierenden der Entente für die Westfront, Marschall Foch, umfunktioniert worden war, am 11. November 1918 der Waffenstillstand unterzeichnet. Um 5.30 in der Frühe nahm Staatsekretär Matthias Erzberger für die deutsche Seite mit seiner Unterschrift die Bedingungen für die Waffenruhe an, die wenige Stunden später, um 11 Uhr, begann.
Dass die Lichtung im Wald von Compiègne eine Gedenkstätte werden sollte, stand schon bald nach dem Ende der Kriegshandlungen fest. Aber erst 1927 wurde der Eisenbahnwaggon von Paris aus wieder an den geschichtsträchtigen Ort gebracht und in einem eigens dafür errichteten Museum ausgestellt. Zur Unterzeichnung des Waffenstillstands zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich am 22. Juni 1940 ließ Hitler den Waggon wieder aus dem Museum herausholen und auf die Waldlichtung setzen – die Rache für die „Demütigung“ von 1918. Anschließend wurde er nach Berlin gebracht und an verschiedenen Orten aufs Abstellgleis gestellt, bis ihn – so eine Version der Geschichte - im März 1945 angesichts vorrückender amerikanischer Truppen SS-Angehörige zerstörten. Im Waffenstillstandsmuseum in der Waldlichtung von Compiègne wurde später ein baugleicher Waggon aufgestellt.
Dort kann man ihn heute besichtigen: Das Innere ist bis ins letzte Detail rekonstruiert, und ein fünfminütiger Kommentar informiert über die Zeremonie, die am 11.11.1918 dort stattgefunden hat. In weiteren Räumen werden Objekte des Kriegs präsentiert: Waffen, Uniformen, Helme, Gebrauchsgegenstände. Unbedingt sehenswert ist die 700 Objekte umfassende Kriegsfotosammlung, die man im 3D-Effekt sehen kann.
Auf dem weitläufigen Gelände befinden sich weitere Monumente: eine Statue des Marschall Foch, der Erinnerungsgarten Trébuchon, in dem mit verschiedenen kleineren Monumenten der Toten der Kriege bis in die Gegenwart gedacht wird, das Denkmal für die Befreiung von Elsass-Lothringen. Gleise markieren den Ort, an dem einst der Eisenbahnwaggon stand. (www.mairie-compiegne.fr./decouvrir/museearmistice.php)
So wurde es Abend, bis wir Meaux erreichten. 1914 standen deutsche Truppen nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Der Vormarsch wurde schließlich von französischen und britischen Truppen gestoppt. Daran erinnert ein sehr pathetisches Denkmal, das die Vereinigten Staaten den Franzosen schenkten und das 1932 vor den Toren der Stadt auf dem ehemaligen Schlachtfeld errichtet wurde: Le Monument Américain, wie es deshalb genannt wird. 26 Meter hoch, stellt es eine nackte Frauenfigur da, die Frankreich symbolisieren soll und die ihr schmerzverzerrtes Gesicht gen Himmel richtet, zu ihren Füßen die Opfer des Krieges: La liberté eplorée des Bildhauers Frederick MacMonnies.
Das Denkmal erhebt sich direkt neben dem 2011 eröffneten Musée de la Grande Guerre, das wir am nächsten Morgen besichtigten. Der silbern wirkende Flachbau auf Stelzen ist das modernste unter den vielen französischen Kriegsmuseen. Mehr als 50.000 Objekte des französischen Privatsammlers Jean-Pierre Verney werden hier präsentiert. Die Ausstellung führt die Besucher zunächst zurück in das 19. Jahrhundert und thematisiert die Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Der Hauptteil ist der Zeit des Großen Krieges gewidmet, insbesondere den Marne-Schlachten, die durch aufwändige Inszenierungen – lebensgroße Soldatengruppen der am Krieg beteiligten Nationen im Aufmarsch, Kriegsgerät, Alltagsgegenstände der Soldaten, Fahrzeuge einschließlich eines Wagens zur Beförderung von Brieftauben, Schützengräben, Filme, 3D-Fotografien – (auch akustisch) erfahrbar gemacht werden soll. Dieser Rundgang endet in der Nachkriegszeit mit den weltweiten Auswirkungen des Konfliktes.
Als Ergänzung zu diesem Rundgang können die Besucher einzelne Aspekte des Kriegs detaillierter erkunden: die Rolle der Frau, den Alltag im Schützengraben sowie in den Kriegsgefangenenlagern und in den besetzten Gebieten, die Auswirkungen der Gewalterfahrung, den medizinischen Fortschritt in den dadurch verursachten Leiden, die Intervention der Vereinigten Staaten, um einige der zehn themenbezogenen Bereiche in den Nebenräumen zu nennen. Darin waren wir uns einig: Ein Besuch dieses Museums ist uneingeschränkt zu empfehlen. (www.museedelagrandeguerre.eu)
Unsere nächste Station war der deutsche Soldatenfriedhof von Chambry nördlich von Meaux. Er wurde bereits 1919 von den französischen Militärbehörden angelegt, um vor allem die Männer begraben zu können, die Ende August/Anfang September 1914 während der ersten Marne-Schlacht kurz vor Paris getötet wurden oder später ihren Verletzungen erlagen. Die meisten waren zunächst provisorisch auf dem Schlachtfeld oder auf lokalen Friedhöfen beigesetzt worden, bevor man sie in den Nachkriegsjahren umbettete. Bei den meisten Leichen konnte die Identität nicht mehr nachgewiesen werden; das gilt auch für die Toten der letzten großen deutschen Offensiven im Mai und Juli 1918. Von den 1.062 Gefallenen sind nur 64 in Einzelgräbern bestattet; in den zwei Gemeinschaftsgräbern liegen 998 Soldaten, von denen 13 namentlich bekannt sind. Ab 1927/28 konnte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. aufgrund einer Vereinbarung mit den französischen Militärbehörden den Friedhof instand setzen und auf die Einzelgräber Natursteinkreuze mit eingravierten Namen und Daten der identifizierten Soldaten setzen. Damit unterscheidet sich dieser deutsche Friedhof von den vielen anderen mit seinen in der Regel düsteren schwarzen Kreuzen. Sein endgültiges Gesicht erhielt der Friedhof von Chambry nach dem deutsch-französischen Kriegsgräberankommen vom 19.Juli 1966. Im nahe gelegenen französischen Soldatenfriedhof sind 1.258 Tote bestattet. (www.volksbund.de/kriegsgraeberstaette/chambry.html)
In Chambry besuchten wir auch den kommunalen Friedhof. Zwischen den Gräbern befinden sich die Reste einer Mauer mit einer Platte, die darauf hinweist, dass an dieser Stelle die alte Friedhofsmauer verlief. Zuaven, algerische Infanteriesoldaten in Diensten Frankreichs, brachen Steine aus ihr heraus, um immer noch sichtbare Schießscharten zu schaffen, hielten an dieser Stelle den Feind auf und starteten anschließend einen verlustreichen Gegenangriff. Die Gedenktafel ehrt sie mit dem Hinweis, auf diese Weise hätten sie am 6. und 7. September 1914 zum Sieg über die Deutschen beigetragen.
Auf dem Weg passierten wir La-Ferté-sous-Juarre, Anfang September 1914 Schauplatz erbitterter Kämpfe. An die 3.888 britischen und irischen Soldaten, die kein bekanntes Grab haben und die in dieser Region von Ende August bis Anfang Oktober als Angehörige des Expeditionskorps fielen, erinnert im Ortskern ein riesiger rechteckiger Block aus weißem Stein mit ihren Namen. Er wird von einem ebenfalls steinernem Sarkophag gekrönt, auf dem in Stein gemeißelte Waffen, Bajonette, Soldatenhelme und eine Fahne drapiert sind. Das Memorial wurde am 4. November 1928 in Anwesenheit von Marschall Foch eingeweiht.
In westlicher Richtung auf der Frontlinie von 1914 befindet sich ein Mahnmal der Franzosen: die Nekropole von Soizy-aux-Bois. Hier handelt es sich nicht um einen Friedhof im engeren Sinne. Es gibt keine Gräber, sondern ein von einem steinernen Kreuz gekröntes Beinhaus, in dem die sterblichen Überreste von 1.692 Soldaten liegen, von denen nur 404 bekannt sind. Ihre Namen sind auf vier Platten verzeichnet.
Umweit von Soizy erhebt sich, oberhalb der Sümpfe von Saint-Gond, das gewaltige französische Denkmal für den Sieg in der Marne-Schlacht im September 1914: le : Monument à la première victoire de la Marne. Erste Pläne, hier ein Monument zu errichten, gab es bereits 1917. Aber erst 1929 wurde ein Wettbewerb ausgelobt: Hier sollte entstehen, was die Bedeutung des Aufhaltens der deutschen Truppen angemessen symbolisieren könnte. Und so schufen der Architekt Paul Bigot und der Bildhauer Henri Bouchard eine 35,5 Meter hohe Säule aus rötlichem Stein, die von einem Engel des Sieges gekrönt wird. Am Fuß des Monolithen ist überlebensgroß der siegreiche General Joffre eingemeißelt, der seinen ausgestreckten linken Arm auf die Schulter eines einfachen Soldaten – eines poilu – legt, an seiner Seite rechts wie links und sehr viel kleiner die Generäle der 3., 4., 9., 5. und 6. Armee, sowie der Kommandant des britischen Expeditionskorps French und der Pariser Militärgouverneur Galliéni, der den französischen Nachschub aus der Hauptstadt organisiert hatte. Das monströse Werk wurde im Dezember 1933 vollendet, sollte aber erst 1939 eingeweiht werden. Diese Zeremonie wurde wegen des Beginns des Zweiten Weltkriegs verschoben und fand erst am 23.September 1951 statt.
Ähnlich monströs, wenn auch auf ganz andere Weise, ist das Mémorial des Batailles de la Marne in Dormans am Südufer der Marne. In dieser Region war es bereits Anfang September 1914 zu heftigen Kämpfen gekommen, aber dem Städtchen war die Zerstörung erspart geblieben. Erst im Juli 1918 wurde das evakuierte Dormans von deutscher Artillerie zerstört. Es gelang den Deutschen, Pontonbrücken über die Marne zu schlagen, aber ihr Versuch, den Südhang zu erklimmen, wurde von einer vereinten Aktion französischer, britischer und amerikanischer Einheiten aufgehalten. Genau diesen Ort zweier Offensiven bestimmte Marschall Foch zu der Stelle, an der eine gewaltige Gedenkstätte die Verbindung zwischen den beiden Schlachten 1914 und 1918 symbolisieren sollte. Schon bald nach Kriegsende wurde ein Schloss mit angrenzendem Park erworben, und am 18. Juli 1920 wurde im höher gelegenen Teil der Anlage der Grundstein für ein Bauwerk gelegt, das wie ein zweites Sacré-Coeur über dem Marne-Tal aufragt: eine doppelgeschossige Basilika im neoromanischen Stil, in deren Inneren das Gedenken an die Kriegstoten einen sakralen Charakter annimmt.
Über eine monumentale Treppe gelangt man auf den Vorplatz, auf dem eine Orientierungstafel über das Geschehen der zweiten Marne-Schlacht informiert. Beim Eintreten in die Kirche fällt der Blick auf den gegenüberliegenden Altar, der von einem riesigen, halbrunden Glasfenster überragt wird. Die Heilige Johanna und der Heilige Michael, umgeben von lila gewandeten Engeln mit roten Flügeln, legen ihre Hände auf die Schultern eines knienden poilu, dem Inbild des französischen Soldaten, und führen ihn einem gigantischen Christus im Strahlenkranz zu. Diese Strahlen fallen auf weitere französische Soldaten in den Uniformen von 1914 und 1918, die am Rande des Bildes stehen, unter ihnen der Colonel Driant, der erste Tote der Schlacht von Verdun. Welch religiöse Überhöhung des Krieges!
Für das Pathos des Interieurs könnten noch zahlreiche weitere Beispiele angeführt werden, wie die Reliefs im Obergeschoss, die den Kampf gegen das Deutsche Reich in eine Reihe stellen mit der Hunnenschlacht auf den Katalaunischen Feldern, dem Sieg Karl Martells über die Araber und dem Kampf Johannas gegen die Engländer. Das Motiv des Heiligen Michael, den Drachen – Symbol für den Feind - tötend, wird in einem weiteren Glasfenster wieder aufgenommen: In der Krypta befindet sich ein steinerner Sarkophag, der für die 1.350.000 Kriegstoten steht; die Namen der Franzosen, die in den Marne-Schlachten fielen, sind in den Stein eingraviert.
Bei unserem Besuch wurde das allgegenwärtige Pathos glücklicherweise unterlaufen durch eine Aktion, die fast den gesamten Innenraum einnahm: Schlachtenliebhaber hatte sich versammelt, um die Kämpfe des Weltkriegs nachzustellen. Auf aufgebockten Holzplatten bereits fertiggestellt war die Miniaturnachbildung der Landschaft mit ihren Orten, versehen mit Namensschildchen. Das „Schlachtgeschehen“ war noch im Aufbau begriffen, aber vereinzelt waren schon gelbe LED-Flämmchen mit roten Zacken aufgestellt, die die Kampfplätze markieren sollten. Im Grunde passte dieses ungewöhnliche Hobby gar nicht zu diesem christlich konnotierten und damit auf mich befremdlich wirkenden Gedenken an die Kriegstoten.
Links von der Basilika wurde ein Beinhaus erbaut. Hier befinden sich 130 Särge, in denen die sterblichen Überreste von 1.332 französischen Soldaten liegen; nur 11 von ihnen konnten identifiziert werden. Seit 1993 wird hier alljährlich am 11. November eine Zeremonie im Gedenken an die Kriegsopfer veranstaltet.
Unsere nächste Station war Chateau-Thierry östlich von Dormans. Hier fand am 18. Juli 1918 ein französisch-amerikanischer Überraschungsangriff gegen deutsche Stellungen statt. Es handelte sich um eine der ersten militärischen Aktionen des amerikanischen Expeditionskorps unter dem Befehl von General Pershing. Im Ort selbst befindet sich ein französischer Soldatenfriedhof oberhalb des kommunalen Friedhofs. Außerhalb der Stadt auf der so bezeichneten Anhöhe 204 wurde das amerikanische Monument errichtet. Es besteht aus einer gigantischen Säulenhalle, deren dem Tal zugewandete Seite in der Mitte ein martialisch anmutender Adler schmückt, zu seinen Füßen der Spruch: „TIME WILL NOT DIM THE GLORY OF THEIR DEEDS“, darunter eine Landkarte mit Informationen über den Geländegewinn, den die amerikanische Division nach dem 18. Juli erzielte. Dieses Monument gilt zugleich als Symbol für die Freundschaft und Kooperation zwischen den französischen und amerikanischen Armeen.
Der letzte Stopp des Tages galt dem britischen Soldatenfriedhof Montreuil aux Lions auf dem Weg zurück nach Meaux. 171 britische Soldaten, die im September 1914 fielen, sind hier begraben. Die britischen Friedhöfe gleichen einander weltweit bis ins kleinste Detail: Weiße Grabsteine mit gerundeter Oberkante, versehen mit Emblem, Rang, Namen, Todestag (wenn bekannt) und Alter des Gefallenen, die Gräber mit roten Rosen bepflanzt, zum Teil geschmückt mit den überall präsenten Kränzen aus Plastikmohnblumen, den poppies, die für die Briten den Ersten Weltkrieg symbolisieren. An einem Grab ein handgeschriebener Zettel geheftet an einen Blumentopf mit Erika, datiert vom 6.7.2014: „In memory of Peter Leo O’Reilly who died on the 6.9.1914 from: his family.“ Abendrot lag über den Gräbern.
Am nächsten Morgen war der deutsche Soldatenfriedhof von Berru östlich von Reims im Kontrast zur Abendstimmung in Montreuil in dichten Nebel gehüllt: schwarze Kreuze, keine Blumen auf den Gräbern, vereinzelt ein Kranz niedergelegt: Moosflechte mit Tannenzapfen, überragt von einem riesigen Kreuz aus dunklem Metall in der Mitte der Anlage. Der Friedhof wurde 1923 als Sammelfriedhof für 17.557 Soldaten angelegt. Der einzige Farbtupfer: ein Beet mit bunten Wiesenblumen am Eingang.
Westlich davon, auf dem Weg nach Verdun in der Champagne gelegen, steht ein weiteres monumentales Denkmal, das Beinhaus von Navarin. Es hat die Form einer Pyramide, auf deren abgeflachter Spitze drei Soldaten in Kampfstellung vorgebeugt stehen: das Bajonett gezückt, die Faust mit der Handgranate gereckt, das Gewehr über die Schulter gelegt. Der Bildhauer Maxime Real de Sarte, durch den Verlust des linken Arms im Januar 1916 selbst kriegsversehrt, hat dem Soldaten auf der Linken das Gesicht seines Bruders Serge gegeben, der am Chemin des Dames (vgl. Bericht über die Exkursion in die Champagne) fiel, dem zur Rechten das Gesicht von Quentin Roosevelt, dem Neffen des amerikanischen Präsidenten, der am 14. Juli 1918 bei Chateau-Thierry getötet wurde, und dem in der Mitte das des Generals Gouraud, der die Initiative für dieses Monument ergriff. Mit ihm sollen die Soldaten geehrt werden, die auf Seiten der Alliierten bei den Kämpfen in der Champagne ihr Leben ließen. Auch vier amerikanische Divisionen waren daran beteiligt. Der Grundstein aus den Ruinen der Kirche des zerstörten Dorfes Souain wurde am 4. November 1923 hier an einem Ort gelegt, der Schauplatz heftiger Kämpfe war – Reste von Schützengräben sind in ummittelbarer Nähe des Monuments zu sehen. Am 28. September 1924 wurde es von Marschall Joffre und General Gouraud eingeweiht.
Ein Eingang führt in das Innere der Pyramide, deren Krypta die sterblichen Überreste von 10.000 Soldaten beherbergt. Auch General Gouraud, der Initiator des Monuments wurde später hier beigesetzt. Es war, so heißt es, sein eigener Wunsch, unter den Soldaten gegraben zu werden, die er von 1916 bis 1918 als Chef der 4. Armee befehligt hatte. (http://www.uswarmemorials.org/html/monument_details.php?SiteID)
Von Navarin ist es nicht weit zum nördlich gelegenen Sommepy American Monument auf dem Höhenrücken Blanc Mont. Auch dieses Monument ehrt die amerikanischen Divisionen, die gemeinsam mit der französischen 4. Armee im Sommer und Herbst des Jahres 1918 gegen die deutschen Truppen kämpften. 70.000 amerikanische Soldaten waren in dieser Region im Einsatz. Nach heftigen Gefechten nahm die 2. amerikanische Division unterstützt von französischen Soldaten die Anhöhe Blanc Mont am 3. Oktober 1918 ein.
Diese Gedenkstätte, die 1937 errichtet wurde, ist ein quadratischer Turm aus hellgrauem Kalkstein, der für diese Region so typisch ist – zur Zeit unseres Besuchs zwecks Renovierungsarbeiten eingerüstet. Von der Plattform aus hat man einen Blick auf die Spuren, die der Krieg hier bis heute hinterlassen: zickzackförmig verlaufende Schützengräben, in denen sich die Deutschen verschanzt hatten, Granattrichter. (http://www.abmc.gov)
Östlich von Sommepy-Tahure stießen wir auf die Überreste eines deutschen Blockhauses. Mit diesem Terminus bezeichnet man auch im Französischen im militärischen Befestigungswesen kleine Schutzbauten zunächst aus Holz, später aus Stein, die an strategisch bedeutsamen Stellen errichtet wurden, um feindliche Angriffe abzuwehren. Seit der Schlacht an der Somme 1916 verstand man darunter vor allem befestigte Maschinengewehrstellungen aus Eisenbeton.
Am Nachmittag erreichten wir La Main de Massiges, eine Hügellandschaft etwa 80 Kilometer östlich von Paris, die aus der Vogelperspektive betrachtet ein wenig einer ausgestreckten Hand gleicht. Von der Höhe aus hat man einen Blick in alle Himmelsrichtungen, was sie 1914 und 1915 zu einem heftig umkämpften Ort machte. 1915 untertunnelten hier die Deutschen die französischen Stellung, füllten die Stollen mit Sprengstoff und jagten den Hügel in die Luft: Noch heute ist der Krater zu sehen. Die Franzosen gaben La Main de Massiges auf, starteten aber im September 1915 auf einer Breite von 25 Kilometern eine Artillerieoffensive, bei der auch Giftgas zum Einsatz kam. Sie eroberten zwar die Anhöhe, nicht aber den rückwärtigen Abhang, an dem sich die Deutschen eingegraben hatten. Dort hielten sie die Stellung bis zur franko-amerikanischen Offensive im Herbst 1918. Wohl Zehntausende deutsche und französische Soldaten sind hier umgekommen.
Das Gelände ist heute in Privatbesitz von Eric Marchal. Der hat hier seit einigen Jahren Ausgrabungen vorgenommen und unter einer mit Kreide durchsetzten Erdschicht ein Netz von Schützengräben freigelegt, das die Hügellandschaft durchzieht. Unterstände wurden ausgegraben und rekonstruiert; angerostete Waffen sowie Utensilien aus dem soldatischen Alltag von der Feldflasche bis zum Esslöffel stehen am Rand der stacheldrahtbewehrten Gräben oder sind nebeneinander auf Regalen drapiert. Und immer mal wieder weist ein Schild darauf hin, dass an dieser Stelle das Skelett eines Soldaten gefunden wurde, dessen Nationalität durch Uniformfetzen und Metallstücke festgestellt werden konnte, während die Identität nur in zwei von sieben Fällen zu klären war: Auf einem schlichten Holzkreuz ist so unter einem etwas verblichenem Foto zu lesen:
Albert Dadure
21 ans
Recrutement de Cherbourg
23ème Régiment d’infantrie coloniale
Mort pour la France le 7 février 1915
Retrouvé le 21 juillet 2013
Für mich war La Main des Massiges der Ort, der eindruckvoller als jedes Denkmal an die Schrecken des Kriegs in dieser Region erinnert.
Am Ortsausgang von Massiges steht eine Marienstatue, die 1865 zum Dank für die überstandene Cholera errichtet worden war. Während des Krieges war ein Projektil in ihre linke Brust eingedrungen, und alsbald hatte sich ein Bienenscharm dort eingenistet. Die französischen Soldaten, die sie auf dem Weg zur Frontlinie passierten, tauften sie Vierge aux abeilles, die Jungfrau der Bienen. Als solche thront sie auch heute noch hoch auf einem Sockel mit einer Tafel, die durch ihre Inschrift die hier getöteten Soldaten aus dem Ort ehrt: Hommage aux soldats tués a Massiges. Neben der Marienstatue zeigt eine Luftaufnahme der Region vom Mai 1916 das Ausmaß der Zerstörungen: Das Dorf Massiges hat aufgehört zu existieren. In Ruinen liegt es in einer mit Schützengräben durchzogenen Mondlandschaft.
Auf dem Weg zurück nach Bonn machten wir einen kurzen Stop am deutsch-französischen Soldatenfriedhof im belgischen Neufchateau, den wir allerdings verschlossen vorfanden – die absolute Ausnahme auf all unseren Exkursionen. Dieser Friedhof wurde bereits während des Krieges vom französischen Sanitätsdienst als letzte Ruhestätte angelegt. Heute liegen hier 999 Kriegstote aus beiden Weltkriegen. 952 dieser Soldaten sind im Ersten Weltkrieg gestorben, 47 im Zweiten, 121 Deutsche, 878 Franzosen. Die deutschen Kriegstoten kamen als Kriegsgefangene in französischen Lazaretten zu Tode, aber auch die französischen starben nicht „im Feld“, sondern erlagen später ihren schweren Verwundungen. (http://www.volksbund.de/kriegsgraeberstaette/neufchateau.html)
Die meisten deutschen Soldaten aus allen Teilen Deutschlands, die hier begraben sind, gerieten während der schweren Kämpfe bei Verdun im Herbst 1918 in französische Gefangenschaft, die sie nicht überlebten. Auch mein Großvater erhielt bei Verdun das, was er einem Kameraden gegenüber den „Heimatschuss“ nannte, eine Verletzung, die ihm den Rücktransport in seine Heimatstadt Osnabrück ermöglichen sollte. Aber dieser Zuruf war das letzte Lebenszeichen; danach verliert sich bis heute jede Spur.
Am 22. und 23. August 1914 fand bei Neufchateau eine der sogenannten Grenzschlachten statt, an der die 15. Division der 4. deutschen Armee beteiligt war. Diese Armee war über Luxemburg durch Südbelgien vorgerückt und sollte gemeinsam mit der 1., 2. und 3. Armee zur Marne vordringen. Nach heftigen Gefechten mit hohen Verlusten von über 3.000 Mann allein auf deutscher Seite zogen sich die französischen Truppen zurück, die im südlichen Belgien den deutschen entgegengetreten waren, um den Krieg aus ihrem Land fernzuhalten..
Zur 15. Division gehörte das II. Bataillon des Infanterie-Regiment 160, eine Bonner Einheit, in der auch August Macke kämpfte An der Schlacht von Neufchateau hatte er jedoch nicht teilgenommen. Er hatte das, was im soldatischen Jargon als „Feuertaufe“ bezeichnet wurde, im unweit gelegenen Porcheresse erlebt: „Diese Nacht haben wir ein schauderhaftes Nachtgefecht in einem Dorf gehabt, haben zwei französische Infanterieregimenter da hinausgeschmissen, viele Tote und Verwundete. Es war schauerlich“, schrieb er an seine Frau Elisabeth auf einer Feldpostkarte vom 23. August Nur einen guten Monat später starb er am 26. September nach dem Rückzug von der Marne auf dem Schlachtfeld von Souain.
Das ungewöhnlichste Kriegerdenkmal fanden wir in Theux, einem hübschen wallonischen Städtchen in der Provinz Lüttich und unser letzter, gar nicht eingeplanter Halt vor der Rückreise nach Bonn. Da stehen zu Füßen einer Säule, die von einer Frauenfigur mit Siegerkranz in den hochgereckten Händen gekrönt wird, ein Soldat des Ersten Weltkriegs auf der Linken und ein sogenannter Franchimontois auf der Rechten, beide die linke bzw. die rechte Hand auf ein steinernes Wappen gestützt. Keiner von uns Dreien hatte eine Idee, was es mit diesen Franchimontois auf sich hat.
Im 15. Jahrhundert, so lese ich später nach, stand das Bistum Lüttich unter burgundischem Einfluss. Die Bürger Lüttichs versuchten wiederholt, sich gegen die Fremdherrschaft aufzulehnen. Um ihren Widerstand endgültig zu brechen, belagerten 1468 die Heere Karls des Kühnen, begleitet vom französischen König Ludwig XI., die Stadt Lüttich. Die Franchimontois, 600 Männer aus dem nahe gelegenen Franchimont, starteten mit Vincent de Bueren und Gosuin de Streel an ihrer Spitze in der Nacht des 29. Oktober 1468 einen Angriff mit dem Ziel, die Anführer zu töten und das führerlose burgundische Heer zum Rückzug zu bewegen. Der Plan misslang, alle 600 Franchimontois wurden umgebracht, Lüttich wurde erobert und in Brand gesetzt. Viele Bürger wurden in der Maas ertränkt.
So jedenfalls erzählt es der Chronist Phillippe de Commines. Was auch immer wahr daran ist, was erfunden sein mag: Seit der Schaffung eines unabhängigen Staates Belgien gilt diese Geschichte als Beispiel der Selbstaufopferung für das Vaterland. So liegt es nahe, dass man auf diesen Mythos zurückgriff, als deutsche Truppen im August 1914 in das neutrale Belgien eindrangen: „(...) Wallonen, erinnert euch an die 600 Franchimontois!“ Mit diesen Worten rief der Belgischen König Albert I. zum Widerstand auf. So erklärt sich auch, warum Soldat und Franchimontois im Denkmal vereint sind. (http://en.wikipedia.org/wiki/Six_hundred_Franchimontois; 20.09.2014)
Weshalb lohnt die Reise zu den Kriegsschauplätzen an der Marne für den historisch Interessierten? Das neue Museum in Meaux ist unbedingt zu empfehlen, präsentiert er doch den Krieg mitsamt seiner Vorgeschichte und den Nachwirkungen in einer sehr neuen und eindrucksvollen Weise.
Die Gedenkstätten, die wir besuchten und die von Franzosen, Briten, Kanadiern und Amerikanern schon bald nach dem Ende des Krieges und unter dem Eindruck seiner Schrecken geplant wurden, präsentieren sich sehr unterschiedlich. Ein bombastisches Mahnmal wie das kanadische bei Vimy, entfaltet eine Ästhetik, die emotional berühren kann, während der französische Monolith von Mondement auf mich lediglich monströs wirkt und die religiöse Überhöhung des siegreichen Krieges in der Basilka von Dormans befremdlich anmutet. Die amerikanischen Gedenkstätten bei Chateau-Thierry – das monument américain de la cote 24 – und von Blanc Mont sind trutzig nüchtern und feiern mit wuchtiger, weithin sichtbarer Präsenz den Sieg über die deutsche Armee. Das Memorial von Navarin vereint viele dieser genannten Momente und versteht sich als monument aux morts des armées de Champagne. Beinhaus und Denkmal zugleich, ist es den Toten amerikanischer, französischer, marokkanischer Divisionen sowie russischer, polnischer und tschechoslowakischer Brigaden gewidmet.
Die große Anzahl von zum Teil riesigen Soldatenfriedhöfen der verschiedensten Nationen zeigt mir immer wieder von Neuem, wie sehr der Norden Frankreichs vom Krieg heimgesucht wurde, wie viele Soldaten bis hin zu den chinesischen Vertragsarbeitern hier ihr Leben ließen. Luftaufnahmen zeigen, dass bis heute der Verlauf der Schützengräben auf den Äckern zu erkennen ist. Immer noch gibt es die sogenannten Roten Zonen, deren Betreten verboten ist, weil sich Sprengstoff im Boden verbirgt. Und immer noch gibt die Erde Kriegstote frei. In jedem noch so kleinen Dorf passiert man ein Kriegerdenkmal, oft gekrönt von dem gallischen Hahn.
Den stärksten Eindruck hinterlässt eine Stätte wie Le Main de Massiges. Hier manifestiert sich auf sehr vielfältige Weise das Grauen des Grabenkrieges, und zugleich ist sie Zeugnis für das Engagement von Personen, die auch nach 100 Jahren noch das Gedenken an den Krieg bewahren wollen. In Massiges ist es Eric Marchal, der das Gelände erwarb und die Ausgrabungen unternahm. In einem Interview mit dem Handelsblatt vom 8. September 2014 gibt er seine Freude darüber Ausdruck, dass wegen der Einhundertjahrfeier derzeit das Interesse am Ersten Weltkrieg und somit auch die Zahl der Besucher zugenommen hat, und beklagt gleichzeitig: „Viele Franzosen, Belgier und Holländer kommen, leider fast keine Deutschen.“ In ähnlicher Weise äußerte sich uns gegenüber Richard Dunning, den wir auf unserer Exkursion an die Somme (vgl. Bericht) am Lochnagar-Krater trafen. Auch er hatte das Gelände gekauft, um hier die Erinnerung an den Krieg wach zu halten. Ein weiteres Beispiel für privates Engagement erlebte ich auf der Exkursion in die Champagne (vgl. Bericht), wo in Nauroy les amis de Nauroy dafür sorgen, dass das zerstörte und nicht wieder aufgebaute Dorf nicht in Vergessenheit gerät.
Wir hatten damit gerechnet, dass wir 100 Jahre nach der Marne-Schlacht viele Besucher an den Schauplätzen der Kämpfe antreffen würden, aber das Gegenteil war der Fall. Britische Busse auf battle field tour, wie wir sie von anderen Exkursionen, insbesondere aus Flandern, kannten, waren nicht unterwegs, aber auch Individualreisende sahen wir nur vereinzelt. Unter dem Monolithen von Mondemont veranstaltete eine Gruppe von Frauen mit ihren Kindern ein Picknick. Auf den Friedhöfen, insbesondere in Flandern von ganzen Schulklassen „heimgesucht“, waren wir meist allein. Nur weiter oben im Norden, an der kanadischen Gedenkstätte bei Vimy, herrschte Hochbetrieb. Vor allem Jugendliche, mit Bussen angekarrt, genossen auf den Stufen hockend die Mittagssonne oder machten Gruppenfotos mit den Pylonen als Hintergrund. Ob sie mit dem Grande Guerre noch etwas anfangen können?
Sabine Harling
Weiterführende Literatur:
La Marne et la Champagne. Guides illustrés des Champs de bataille 1914 – 1918. Boulogne-Billancourt 2014.