Spurensuche in der Champagne
Am 28. Juni 2014, 100 Jahre nachdem der bosnische Serbe Gavrilo Princip in Sarajevo die tödlichen Schüsse auf den österreichischen Erzherzog und seine Frau abgefeuert hatte, reiste ich durch die nördliche Champagne und über den Chemin des Dames. Der 28. Juni 1914 war ein Sonntag, und auf ganz Europa lastete eine brütende Hitze. Der 28. Juni 2014 war indes ein regnerischer und kühler Samstag.
Im Ersten Weltkrieg, der gut einen Monat nach jenem verhängnisvollen Attentat seinen Anfang nahm, war diese Region Schauplatz heftiger Kampfhandlungen; es gibt insofern auch einen engen Bezug zu Bonn, da sie Einsatzgebiet des 9. Rheinischen Infanterieregiments 160 war, dem zahlreiche Bonner angehörten, so auch der 27jährige Feldwebel-Leutnant August Macke, der bereits am 26. September 1914 bei Souain-Perthes-lès-Hulus tödlich verwundet und wahrscheinlich in einem Massengrab auf dem dortigen deutschen Soldatenfriedhof beerdigt wurde.
Welche Spuren haben die Marne-Schlachten von 1914 und 1918, die deutsche Besatzung, der Stellungskrieg und die Nivelle-Offensive bis heute hier hinterlassen?
Diese Reise in die Vergangenheit war keine Exkursion der Bonner Geschichtswerkstatt. Vielmehr nahm ich an einer dreitägigen Fahrt der Thomas-Morus-Akademie unter dem Titel „Macke, Grosz, Ernst, Dix .... Künstler und Literaten erfahren das Grauen des Krieges. Spurensuche in der Champagne" teil. Die Leitung hatte Achim Konejung, Kabarettist, Musiker, Autor, Filmemacher, der durch das Schicksal seines Großvaters – der verlor ein Auge und ertaubte auf einem Ohr – zur intensiven Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg gelangt war.
Die Busreise führte uns am 27. Juni zunächst nach Belgien, in das die deutschen Truppen im August 1914 unter Verletzung der Neutralität des Landes einmarschierten, um den Schlieffenplan von 1905 – so benannt nach dem ehemaligen Generalstabschef des deutschen Heeres, aber in bestimmten Punkten modifiziert durch seinen Nachfolger Helmuth von Moltke – zu realisieren: In maximal vier Wochen sollte Paris eingenommen sein. Das „Gelingen" dieses Plans setzte u.a. voraus, dass die Belgier den deutschen Aufmarsch widerstandslos erdulden würden. Als sie das nicht taten, sich im Gegenteil heftig zur Wehr setzten, reagierten deutsche Soldaten mit grausamer Härte. Belgien wurde Schauplatz willkürlicher Zerstörungen, kollektiver Hinrichtungen, Deportationen und drakonischer Strafmaßnahmen, die ihren Höhepunkt in der Zerstörung des historischen Kerns der Universitätsstadt Löwen und seiner weltberühmten Bibliothek fand.
Anlass für dieses „Strafgericht" war eine Schießerei, die wohl irrtümlich von deutschen Soldaten ausgelöst wurde, die in belgischen Häusern untergebracht waren. Andere deutsche Soldaten vermuteten die befürchteten belgischen Franktireure als Verursacher und feuerten zurück. Solche „Selbstbeschießung", durch die im „friendly fire" die eigenen Soldaten getötet wurden, waren keine Einzelfälle. Auch an anderen Orten – z. B. in Dinant – kam es zu Massakern, denen über 6000 Menschen zum Opfer fielen. Die deutschen Gräueltaten an der Zivilbevölkerung lösten eine massive Fluchtbewegung vor allem in die Niederlande aus und diskreditierten die deutsche Armee von Anfang an. „Damit hatte Deutschland den Krieg bereits moralisch verloren", kommentierte Konejung, denn spätestens von nun an galten die Deutschen nicht nur bei ihren Kriegsgegnern als Barbaren. Mit dem Slogan „Remember Belgium!" wurde in den USA für den Kauf von Kriegsanleihen geworben, in Großbritannien diente er als Propaganda für die Anwerbung von Kriegsfreiwilligen. 2001 gab es zum ersten Mal von deutscher Seite eine offizielle Entschuldigung: Der Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium bat in Dinant um Vergebung für das hier geschehene Unrecht.
Militärisch scheiterte der Schlieffenplan spätestens am 10. September, als die beiden Armeeführer der 1. und 2. Armee, Alexander von Kluck und Karl von Bülow, aufgrund einer Einschätzung des von Moltke entsandten Oberleutnants Richard Hentsch und ohne Rücksprache mit der Obersten Heeresleitung den Rückzug der von Gewaltmärschen total erschöpften Truppen an die Aisne anordneten. Diese Entscheidung markierte den Beginn des Stellungskrieges. Ein Teil dieser Frontlinie war das Ziel unserer Reise.
Während der gesamten Busfahrt erläuterte Konejung unermüdlich, kundig und beredt das Kriegsgeschehen und ergänzte seine Ausführungen durch eine Fülle von Bild- und Tondokumenten, die vom sogenannten Augusterlebnis – der in vielen Kreisen verbreiteten Hochstimmung im Deutschen Reich zu Kriegsbeginn – bis zum Zeppelinflug über die kriegsversehrte Landschaft in Frankreich die verschiedensten Aspekte des Krieges thematisierten. Gezeigt wurde auch ein Dokumentationsfilm von Konejung, der eine Euskirchener Schulklasse auf den Spuren einer „Liebesgabenfahrt" von Euskirchen an die Front im Oktober 1914 begleitete. Diese Reise orientierte sich am Tagebuch von Thomas Eßer, einem Teilnehmer dieser Fahrt, später Vizepräsident des Reichstages und Fraktionsvorsitzender der Zentrumspartei. Seine „Uraufführung" erlebte Konejungs Film fast zeitgleich zu unserer Exkursion bei der Eröffnung der Ausstellung „Weshalb nitt fröher?" im Freilichtmuseum Kommern.
Literatur über den Krieg war ein Schwerpunkt der Reise. Autoren wie Tucholsky, Remarque, Grimm auf deutscher Seite, Barbusse, Chevallier und Celine auf französischer Seite, um nur einige der Schriftsteller zu nennen, wurden vorgestellt und mit Auszügen aus ihren Romanen zum Thema Erster Weltkrieg zitiert. Ursprünglich war vorgesehen, diese Präsentation am 28. Juni in der kriegszerstörten Abbaye de Vauclair vorzunehmen, aber nicht nur ein „event" an diesem Ort an diesem Tag, sondern auch das schlechte Wetter ließen uns diesen Programmpunkt in die Auberge de Vauclair verlegen, in der wir zuvor Mittag gegessen hatten.
Bei anderer Gelegenheit trug Achim Konejung Gedichte und Liedtexte vor, die den Krieg beklagten, darunter auch das bekannte „In Flanders Fields" des Briten John Alexander McCrae und – auf CD - das in Deutschland kaum bekannte „Chanson de Craonne", ursprünglich „Chanson de Lorette", das französische Anti-Kriegslied schlechthin, da es an die Meutereien französischer Soldaten im Frühjahr 1917 erinnerte. Bis 1974 war es offiziell verboten, beschmutzte es doch in den Augen der Militärs die Ehre der Armee.
Ich greife vor und kehre zurück zum ersten Reisetag. In Frankreich passierten wir Sedan und Rethel; es begann die ondulierte, baumlose Landschaft der Champagne mit ihren wogenden gelben Kornfeldern. Östlich von Reims, an der alten Frontlinie, befindet sich das Centre d'interprétation de Suippes, ein relativ kleines Museum, das sehr anschaulich die Situation der Soldaten an der Front, aber auch die der Zivilbevölkerung in Zeiten des Krieges und die Jahre der Rekonstruktion, des Wiederaufbaus in den 1920er Jahren, zeigt (www.marne14-18.fr) . In einem der Säle ist ein Schützengraben nachgebaut, und in einer sound-and-light-show wird eine Offensive simuliert. Monitore mit historischen Filmaufnahmen sollen einen authentischen Eindruck vom Kriegsgeschehen an der Front vermitteln. Aus den Wänden eines anderen Saales ragen ein Panzer und ein Propellerflugzeug, mitten im Raum ein Maschinengewehr – die neuen Vernichtungswaffen, die der Ersten Weltkrieg hervorbrachte. Um einen Tisch herum stehen, auf Karten blickend, weiß gehaltene, lebensgroße Figuren: ein deutscher, ein britischer, ein französischer Soldat, Vitrinen zeigen Ausrüstungs- und Gebrauchsgegenstände der Soldaten. Ein Raum ist den Verletzten des Kriegs gewidmet: ein Krankenbett, ärztliche Instrumente, Fotos, Filme. Überhaupt wird viel Filmmaterial auf zahlreichen Monitoren bereitgestellt, das zu würdigen uns leider gar nicht die Zeit blieb.
Am späten Nachmittag erreichten wir Reims. Im Vorgängerbau der heutigen Kathedrale taufte Bischof Remigius der Überlieferung nach 496 den Merowingerkönig Chlodwig, nachdem der nach dem unerwarteten Sieg über die Alemannen bei Zülpich zum Christentum übergetreten war. Eine im Boden eingelassene Tafel im Mittelgang der Kathedrale erinnert an dieses Ereignis. Seit 816 wurden hier die französischen Könige gekrönt, so auch Karl VII, der 1429 durch Johanna von Orléans hierher begleitet wurde, nachdem sie das Ende der englischen Belagerung von Orléans erreicht hatte.
Während des Ersten Weltkriegs wurde die Kathedrale von deutschen Truppen schwer beschädigt. Bereits am 17. September 1914 wurde sie unter Beschuss genommen; am 19. September wurde das Dach durch Granaten in Brand gesetzt. Am Ende standen nur noch die Außenmauern, und es dauerte nach Kriegsende 20 Jahre, bis die erste Messe in der wieder hergestellten Kathedrale abgehalten werden konnte.
Die Alliierten betrachteten diese Angriffe – nach der Zerstörung der Bibliothek von Löwen - als einen weiteren Beweis für die deutsche Barbarei, während die Deutschen ihre Tat rechtfertigen wollten, indem sie behaupteten, der Kirchturm wäre militärisch als Beobachtungsposten genutzt worden. Die Stadt Reims wurde zu 60 Prozent zerstört; in den 1920er Jahren wurden viele Fin-du-Siècle-Gebäude rekonstruiert oder im Art Déco Stil entlang breiter Boulevards neu errichtet.
Auch nach dem Ersten Weltkrieg spielte Reims eine bedeutende Rolle: Am 7. Mai 1945 unterzeichnete Generaloberst Jodl im Namen des Deutschen Oberkommandos die Gesamtkapitulation der deutschen Truppen im Alliierten Hauptquartier, das seinen Sitz in dieser Stadt hatte. Knapp 20 Jahre später begann in Reims die deutsch-französische Aussöhnung: Am 8. Juli besuchte der französische Präsident Charles de Gaulle gemeinsam mit dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer einen Gottesdienst in der geschichtsträchtigen Kathedrale, und de Gaulle erklärte diesen Akt öffentlich zu einem Zeichen der Versöhnung zwischen beiden Staaten. Vor der Kathedrale erinnert eine in den Boden eingelassene Tafel an dieses denkwürdige Ereignis. Wenige Monate später wurde am 22. Januar 1963 der Elysée-Vertrag unterzeichnet, die Grundlage der deutsch-französischen Freundschaft.
Einen Höhepunkt der Reise stellte für mich am 28. Juni die Besichtigung der „Caverne du Dragon", der Drachenhöhle, dar (www.caverne-du-dragon.com). Sie liegt am „Chemin des Dames", einem Höhenzug oberhalb der Aisne, auf den sich 1914 die deutschen Truppen zurückgezogen hatten. Der liebliche Name für den grausigen Ort bezieht sich wohl auf die beiden Töchter Ludwigs XV, die sich in den Sommermonaten der Jahre vor der Französischen Revolution in Bouconville aufzuhalten pflegten. Damit sie bequemer reisen konnten, wurde auf dem Kamm ein mit Sandsteinen gepflasterter Weg angelegt, dessen Reste sich bis heute erhalten haben.
Ab September 1914 nutzten deutsche Truppen die ehemaligen Steinbrüche, um unterirdische Quartiere – Unterkünfte, Krankenstation, Schutzbunker - anzulegen. Seit 1999 ist in diesen Höhlen ein hochmodernes und beeindruckendes Museum untergebracht, das nur im Rahmen einer Führung zu besichtigen ist. Die Tour beginnt mit einer 20minütigen Multimediashow, die die französische Geschichte von den gallischen Kriegen bis zum Ersten Weltkrieg aufrollt. Anschließend gehen die Besucher durch die schwach beleuchtete und in Kalkstein eingegrabene Unterwelt, in der während des Krieges an die 600 Männer lebten. An den Wänden sind Reste der Ort gefundenen Waffen „drapiert", auch Stahlhelme, Stacheldraht und was sonst so vom Kriege übrig blieb. In gut ausgeleuchteten Glasvitrinen sind Exponate ausgestellt, die für das Alltagseben der Soldaten in dieser „Kaserne" wichtig waren: Feder und Tintenfass z.B., denn der Briefkontakt mit den Familien in der Heimat war von immenser Bedeutung. „Südausgang Telefon Lichtzentrale" verkündet eine Schrift an der Wand. Die Deutschen gaben diesem unterirdischen Labyrinth den Namen „Drachenhöhle", den sie bis heute behalten hat. Übrigens wurden in diesem Steinbruch einst die Steine für die Kathedrale in Reims abbaut.
Am 16. April 1917 startete der frisch eingesetzte Oberbefehlshaber der französischen Armee Georges Robert Nivelle, hoch angesehen wegen seiner Verdienste in den Kämpfen um Verdun, eine Offensive gegen die seiner Meinung nach erschöpften und kampfunwilligen deutschen Truppen: Höchsten zwei Tage werde er brauchen, um am Chemin des Dames durchzubrechen, versicherte er der Regierung in Paris. Der Angriff endete indes Anfang Mai in einem veritablen Desaster mit zehntausenden Toten und Verletzten innerhalb von nur zwei Wochen. Darüber hinaus kam es während der Kämpfe zu massenhaften Befehlsverweigerungen, denen sich neben den Soldaten in diesem Frontabschnitt bis Mitte Mai auch andere französische Frontdivisionen anschlossen. Bald war von einer regelrechten Meuterei die Rede: Man sei es leid, sich in unsinnigen Offensiven „abschlachten" zu lassen. Informationstafeln mit Texten auf Französisch, Englisch und Deutsch geben vor Ort Beispiele für die Parolen der Meuterer, z.B.: „Kameraden der 11. Infanteriedivision! Unsere Pflicht ist es, uns zu weigern. Wenn wir da oben sind, ist es zu spät, um zu protestieren. Jetzt müssen wir uns weigern... Ich gehe nicht los. Wer den Chemin des Dames erobern will, soll doch gehen!"
3427 Soldaten wurden vom Kriegsgericht verurteilt, darunter 554 zum Tode, 49 Hinrichtungen durch Erschießen fanden statt. Nivelle wurde durch General Pétain ersetzt. Der Aufstand hatte aber auch zur Folge, dass die Verpflegung verbessert, die Weinration erhöht und mehr Heimaturlaub gewährt wurde.
Ein Teil des Steinbruchs wurde am 25. Juni 1917 von französischen Soldaten eingenommen. Zwei Monate lang lebten Franzosen und Deutsche in einer „cohabitation" - nur durch eine Mauer getrennt im Untergrund: im nördlichen Teil die Deutschen, im Süden die Franzosen. Mehrfach änderte sich die unterirdische Frontlinie: Die Deutschen eroberten verlorenes Terrain zurück, mussten es erneut aufgeben, nahmen es wieder ein. Erst einen knappen Monat vor dem Waffenstillstand mussten die deutschen Soldaten endgültig die Drachenhöhle räumen.
Entlang der Landstraße, die den Chemin des Dames entlang führt und über die 2014 die Tour de France rollt, blühen in einem breiten Streifen Kornblumen. Während insbesondere in Flandern die Mohnblume das Symbol des Ersten Weltkriegs ist und als künstliche Blume - zumeist auf einem kleinen Holzkreuz befestigt - überall die Gräber und Gedenkstätten ziert, ist es hier eben diese Kornblume in Gedenken an die „bleuets" von 1917 bis 1918, die jungen Soldaten, die vor dem eigentlichen Rekrutierungsalter zum Militärdienst herangezogen wurden.
Wie in anderen umkämpften Regionen Frankreichs gibt es auch am Chemin des Dames Dörfer, die ab 1914 evakuiert und während der Kriegshandlungen durch Artillerieangriffe völlig zerstört wurden. Die Bewohner flohen ins Landesinnere, und viele kehrten nach dem Krieg nicht mehr in ihre Heimat zurück. Im Endeffekt aber wurde eine ganze Reihe von Dörfern am Chemin des Dames „wiedergeboren" – oft jedoch nicht an der ursprünglichen Stelle, sondern in der Nachbarschaft. Sie erhielten einen neuen Namen, aber der alte Name blieb Bestandteil des neuen, was die Doppelnamen vieler Orte erklärt. Im Rahmen der „reconstruction" wurden zunächst in den 1920er Jahren Holzhäuser errichtet, die peu à peu durch Steinhäuser ersetzt wurden, erbaut in einem Stil, der im Grunde untypisch für die Region ist. Das Geld für den Wiederaufbau wurde außer von der französischen Regierung auch von den USA und Großbritannien zur Verfügung gestellt.
Bis heute existieren sogenannte rote Zonen, militärisch gesperrtes Gebiet, in dem Landwirtschaft aus Sicherheitsgründen nicht gestattet ist. Ursprünglich war die gesamte Region am Chemin des Dames eine rote Zone, aber landwirtschaftliche Interessenverbände erwirkten eine schrittweise Reduzierung. Heute sind diese Zonen noch immer von Schützengräben durchzogen und von niedrigen Wäldern überwuchert – Betreten verboten! Denn noch immer stößt man auf Munition aus dem Ersten Weltkrieg – auch auf Feldern, die längst für die Landwirtschaft freigegeben sind. Die Landstraße führt genau durch das schmale Niemandsland, das französische von den deutschen Truppen trennte.
Eines der alten verschwundenen Dörfer ist Craonne, das durch das bereits erwähnte Lied der Meuterer, das „Chanson de Craonne" bekannt wurde. Wir folgten einem schmalen Pfad, der auf und ab durch das neu angelegte Arboretum führt, einen Wald aus den unterschiedlichsten Baumarten. Granatentrichter und von Gras überwucherte Hausreste prägen das Bild; ein Kellereingang ist erkennbar, Fotos am ehemaligen Dorfeingang zeigen die ehemaligen Straßen, Gebäude, die Kirche. Anders in Fleury bei Verdun, das wir auf der Exkursion der Geschichtswerkstatt besuchten: Dort gibt es auf dem Waldboden Hinweise, die darüber informieren, was einst an dieser Stelle stand: das Rathaus, die Schmiede, die Bäckerei ....
Wiederum anders in Nauroy, einem Dorf, das vor dem Ersten Weltkrieg 160 Einwohner hatte und das wir am nächsten Morgen besuchten. Hier hatten wir das Glück, einen Vertreter der „amis de Nauroy" anzutreffen. Diese Gruppe (www.lesamisdenauroy.fr) hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Andenken in der Weise zu wahren, dass die Umrisse der ehemaligen Häuser im Gras markiert werden. Der Friedhof wurde gerodet, Reste der Kirche sichtbar gemacht, Grabsteine restauriert, Fundstücke präsentiert. Vor wenigen Jahren wurden sogar deutsche Gräber auf dem Friedhof entdeckt; die sterblichen Überreste sollen demnächst umgebettet werden. Eine Gruft ist erkennbar, die die Resistance im Zweiten Weltkrieg als Waffenlager genutzt haben soll.
Die gefallenen deutschen Soldaten wurden während des Kriegs oft auf den örtlichen Friedhöfen beigesetzt. Erst später wurden die Leichen umgebettet. So erging es auch dem Bonner Maler August Macke, dessen Name auf der Metallplatte zu finden ist, die ein Massengrab auf dem Deutschen Soldatenfriedhof La Crouée bei Souain-Perthes-lès-Hurlus bedeckt. Ob er wirklich hier beigesetzt wurde, ist nicht zweifelsfrei zu klären.
Der deutsche Friedhof mit seinen grauen Waschbetonkreuzen, auf denen auf Vor- und Rückseite jeweils zwei Namen von gefallenen Soldaten eingraviert sind, grenzt direkt an einen ungleich größeren französischen Friedhof; fast 31.000 Franzosen ruhen hier neben knapp 14.000 Deutschen. Erst seit 1926 hat der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge ein Mitspracherecht bei der Gestaltung der deutschen Friedhöfe. Blickt man über das Meer von christlichen Kreuzen, sieht man in der Ferne das Denkmal von Navarin, eine riesige Pyramide, in deren Beinhaus die sterblichen Überreste von mehr als 10.000 Soldaten ruhen. Es blieb keine Zeit, das überdimensionale Denkmal zu betrachten. Auch das Plateau de Californie mit seiner Aussicht über das Schlachtfeld der Nivelle-Offensve passierten wir lediglich: Es regnete, die Sicht war schlecht, die Zeit drängte ... Wir konnten vom Bus aus gerade noch einen Blick auf die moderne Skulptur des israelischen Künstlers Haim Kern werfen, ein übergroßes metallenes Netzwerk, aus dem symbolisch die Köpfe von namenlosen Toten ragen. Es wurde zum 80. Jahrestag des Kriegsendes enthüllt und unterscheidet sich wohltuend von den fast immergleichen steinernen Monumenten mit ihren überlebensgroßen Gestalten: Soldaten, mit pathetischer Gestik trauernde Frauen und Kinder.
Blättere ich durch den Travel Guide zum Chemin des Dames, entdecke ich so manches, was eine weitere Reise in diese Region lohnt.
Sabine Harling