Mittwoch, 29. Juli 1914

Am Tag zuvor, am 28. Juli, hatte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt.

 

In der Sternstraße wurde heute morgen ein Mann, der in die Lektüre eines Extrablattes über den österreichisch-serbischen Krieg vertieft war, von der elektrischen Straßenbahn angefahren und zu Boden geworfen. Auf ein Haar wären ihm die Räder über beide Beine gegangen.

Im Kriegsfalle sind Geld und Wertsachen bei der Sparkasse sicherer aufgehoben, als zu Hause, haben wir heute morgen schon betont, weil ängstliche Gemüter gestern ihre ganzen Spareinlagen aus Besorgnis, sie würden beim Ausbruch eines Krieges vom Staat beschlagnahmt, von der städtischen Sparkasse abgehoben haben. Von genau unterrichteter Seite erhalten wir dazu noch folgende Zuschrift:

Es ist wirklich albern, sich wegen der Sparguthaben selbst zu Kriegszeiten irgendwelche Gedanken zu machen. Nirgendwo sind die Spargelder besser aufgehoben und geschützt als gerade auf den Sparkassen. (…) Weitverbreitet ist die irrige Annahme, daß dem Staate im Falle eines Krieges das Recht zustehe, die in Sparkassen ruhenden privaten Gelder mit Beschlag zu belegen. Demgegenüber sei betont, daß diese Gelder auf Grund gesetzlicher Bestimmung, an die auch der Staat gebunden ist, unantastbar sind. Auch vor dem Feinde ist das Geld sicher; denn der vornehmliche Grundsatz des Völkerrechtes ist der, daß Privateigentum unverletzlich ist. (…) Allen Sparern kann daher nur empfohlen werden, das Geld ruhig auf der Sparkasse zu lassen, zumal für im Hause aufbewahrtes Geld große Gefahr des Verlustes besteht. Diebe und Feuer gefährden es, während es in den Sparkassengewölben sicher ruht und Zinsen bringt.

(Deutsche Reichs-Zeitung, Vorabendausgabe, Rubrik „Bonner Nachrichten“)

 

Mahnung zur Besonnenheit. Fast die gesamte deutsche Presse richtet an die Geschäftswelt und an die Kapitalisten den Appell, unbedingt Ruhe und kühlen Kopf zu bewahren und sich von übereilten Schritten zurückzuhalten, sowohl hinsichtlich der Effektenkäufe als auch der Depotabhebungen.

Telegrammverkehr. Wegen großer Anhäufung der Telegramme nach Oesterreich-Ungarn, den Balkanstaaten und Russland erleiden die Telegramme dorthin Verzögerungen.

Das Bonner Pfadfinderkorps wird nächsten Sonntag im großen Saale des Bonner Bürgervereins das wunderhübsche Lustspiel K. Gutzkows „Zopf und Schwert“ zur Aufführung bringen.

(Bonner Zeitung, Rubrik „Städtische Nachrichten“

Anzeige aus der Bonner Zeitung 29. Juli 1914

Aufgeregte Stimmung herrschte gestern wieder in der ganzen Bevölkerung. Das Ausbleiben von positiven Nachrichten über den Stand der Dinge, allerlei wilde Gerüchte über Ermordung deutscher Diplomaten, deutsche Mobilisierung usw. ließen niemand zur Ruhe kommen. Hauptsächlich vor dem Geschäftslokale des General-Anzeigers staute sich besonders in den Abendstunden eine gewaltige Menschenmasse. Von der Ecke Anzeige im Bonner General-Anzeiger vom 29. Juli 1914Martingasse bis zum Bahnhof war ein Verkehr namentlich in den Abendstunden kaum zu bewerkstelligen. Selbst als die Redaktion die letzte Depesche gegen 12 Uhr herausgab und ausdrücklich erklärte, weitere Nachrichten seien jetzt nicht mehr zu erwarten, wollten nur wenige von einem Nachhausegehen etwas. Die Depesche wurde von einigen stimmbegabten Leuten vorgelesen und mit etwas gedämpften Hurra begrüßt. Sie enthielt nämlich eine etwas beruhigende Mitteilung über die russische Mobilisierung. Es ist charakteristisch für die zur Zeit herrschende Volksstimmung, daß man lieber von Krieg gehört hätte. Ein altes Mütterchen, das in den ersten Reihen stand und wohl einen Sohn bei den Fahnen oder im Aufgebot wußte, hatte sich in die erste Reihe gedrängt. Sie wollte die ganze Nacht dableiben, auch wenn keine weiteren Nachrichten kämen, schlafen könne sie ja doch nicht!

Die Studentenschaft veranstaltete im Laufe des Tages einen Demonstrationszug zum Rektor der Universität. In den Cafés und Restaurants herrschte bis in die späte Nacht lebhaftes Treiben. Patriotische Lieder wurden gesungen und Hochrufe auf Kaiser Wilhelm und Kaiser Franz Josef ausgebracht.

 

Vorsichtsmaßregeln. Die Ahrbrücke zwischen Sinzig und Remagen wird zurzeit von Eisenbahnbeamten mit Karabinern bewacht. Ebenfalls sind Posten an den Bahnübergängen aufgestellt. Durchkommende Automobile werden visitiert.

  (Bonner General-Anzeiger, Rubrik „Aus Bonn“)

 

Gassenpolitiker

Auch Bonn hat, wie die anderen großen Städten (sic), in diesen Tagen seine Gassenpolitiker. Nicht nur im Kaffee und im Bierhaus.; auch in der Gasse wird politisiert. Deutschnationale Ladenjünglinge und deutschvereinliche Studenten produzieren ‚Patriotismus’ mit Kehlen und Lippen auf Straßen und Plätzen. Bis tief in die Nacht dauert der Radau. Sinnlos brüllen sie durcheinander: wer will des Stromes Hüter sein, ich bin ein Preuße, Deutschland über alles. Die Herrschen, die sich hier mit großem Unverstand als die Hüter des Stromes ausschreien und mit der Lungenkraft eines Jahrmarktausrufers der ganzen Welt bekannt geben wollen, daß sie Preußen sind und daß ihnen Deutschland über alles geht, haben natürlich keine Ahnung, was ein Krieg bedeutet, den sie mit frevlem Leichtsinn herbeizuwünschen scheinen. Vermutlich würde ein großer Teil sich zu Muttern zurückwünschen, wenn die Flinten wirklich einmal losgingen und sie im Kugelregen ständen, wenn Garanten unter ihnen platzten und zerfetzte Gliedmaßen umherfliegen und Gehirne ihnen ins Gesicht spritzen; wenn rings die Greuel der Verwüstung sich häuften und am Boden elend die Verstümmelten sich wälzten und schrien. Das ist Krieg, meine jungen Herren! (...)

Die ganze Welt weiß schon, daß wir uns nichts bieten lassen wollen, wir brauchen es nicht erst hinaus zu schreien. Die Polizei sollte im allgemeinen Interesse Demonstrationen, wie sie gegenwärtig in der Dunkelheit auf Straßen und Plätzen verübt werden, untersagen und, wenn fruchtlos, wie jede andere Ruhestörung behandeln. Leider aber hat hier die Polizei bisher versagt. Einer ihrer Beamten hat sich sogar an einem Abend emporheben und auf Schultern tragen lassen und Ansprachen an die Kehlen- und Lippen"patrioten" gehalten. Es soll hier nicht untersucht werden, ob der Polizeibeamte zu einem derartigen Hervortreten berechtigt war. Doch muß hervorgehoben werden, daß derartige Zungenübungen nicht im Interesse des Friedens liegen. Jeder hier zufällig anwesende Ausländer muß eine merkwürdige Meinung von unsern jungen Leuten und unserer Polizei erhalten. Das Gemeingefährliche der unangebrachten Demonstrationen hat man in Berlin auch bereits eingesehen. Gegen die Umzüge ist ein direktes Verbot erlassen worden, was man hoffentlich hier nicht unbeachtet läßt.

Der Straßenlärm wird allerdings durch die marktschreierische Aufmachung unserer beiden Annoncenblätter geradezu gefördert. Beide überbieten einander in ihrem papierenen „Patriotismus". Der General-Anzeiger erzählt täglich, was sich vor ihrer Geschäftsstelle abspielt. Montag stellte sie tiefsinnige Betrachtungen an über die Begeisterung, die damals, nach der französischen Kriegserklärung, hier in Bonn herrschte, und der jetzigen, die nach den ersten Nachrichten über den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Oesterreich-Ungarn und Serbien ausbrach. Nach der Schilderung des Hauptannoncenblattes für Bonn und Umgegend herrschte unter den Vielen, die seine Geschäftsstelle umlagerte, eine geradezu perverse Neugier. Die ersten Nachrichten, die eine friedliche Beilegung des Zwistes erwarten ließ, sollen die Wartenden enttäuscht haben, während die späteren Meldungen mit großer Befriedigung aufgenommen worden sein sollen. Die Aeußerungen des Publikums vor dem General-Anzeiger lassen, wie erzählt wird, allerdings die Deutung zu, es freue sich über den Ausbruch der Feindseligkeiten, die so ungeheuer schwere Folgen für ganz Europa haben können. Aber diese gedankenlosen Gaffer repräsentieren nicht die Bonner Bevölkerung, die in ihrer überwiegenden Mehrheit den Ernst des Augenblicks würdigt und die kindischen Demonstrationen der Urteilsunfähigen vor den Zeitungen und in den Gassen bedauern muß. Das sollten die Redaktionen unserer weitverbreiteten Annoncenblätter ernstlich beachten und alles vermeiden, was der ungesunden, eklen, geradezu gefährlichen Sensationslust der Gassen- und Kaffee- und Bierhauspolitiker Vorschub leistet.

 (Volksmund, aus einem mit „Urban“ gezeichneten Artikel)